Hansi Flick gratulierte nach dem ernüchternden 3:3 (1:2) im symbolträchtigen 1000. Länderspiel kurz den tapferen Ukrainern, dann verschwand der Bundestrainer nach dem nächsten Stimmungsdämpfer exakt ein Jahr vor dem EM-Anpfiff schnell im Kabinengang des Bremer Stadions.
Nach ein paar Worten an seine Spieler zeigte sich der 58-Jährige in der Pressekonferenz dann wieder unverdrossen. «Wir haben einen Plan, was das Ganze betrifft. Den werden wir weiter durchziehen», antwortete er auf die Frage, ob er am missglückten Experiment mit der Dreierkette auch jetzt noch in den Spielen gegen Polen und Kolumbien festhalte. Augen zu und durch?
«Das Spiel zeigt die Verfassung der Mannschaft», räumte Flick nach den 90 überwiegend alarmierenden Minuten bei der DFB-Rückkehr nach Bremen zuvor im ZDF ein. «Man merkt, dass die Mannschaft aktuell nicht mit der breiten Brust unterwegs ist. Daran müssen wir arbeiten. Wir wissen, dass es ein langer Prozess ist», ergänzte Flick. Der Druck auf ihn wächst. Er sprach von «individuellen Fehlern» nach einem guten Beginn.
Mal wieder: Wie schon beim 2:3 im Testspiel gegen Belgien Ende März war das DFB-Team vor 35.795 Zuschauern insbesondere defensiv erneut nicht turniertauglich. So wird das nichts mit einem Fußball-Sommermärchen 2024. Flick stellte selbst einen Bezug zur WM 2006 her, als er wegen der Pfiffe der Fans angesprochen auf ein Stimmungstief in Jahr vor der Heim-EM mit Blick auf die Vergangenheit anmerkte: «2006 hat man im März 1:4 in Italien verloren und es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es ein Sommermärchen geworden.» Es liege aber noch viel Arbeit vor ihm und den Spielern.
Kimmich per Strafstoß zum späten Remis
Immerhin wendeten der nach seiner Einwechslung wirkungsvolle Kai Havertz (83.) und Elfmeterschütze Joshua Kimmich (90.+1) mit ihren späten Toren wenigstens die nächste Niederlage ab. Doch der Unmut war bei den DFB-Fans nicht zu überhören. Nur anfangs lief es nach Plan. Der Bremer Lokalmatador Niclas Füllkrug fälschte bei seinem siebten Tor im siebten Länderspiel einen Schuss von Marius Wolf zum 1:0 ab (6. Minute), ehe laut Kapitän Kimmich «saudumme Gegentore» das deutsche Spiel wieder komplett aus der Balance warfen.
Mit einem Doppelschlag wendeten Wiktor Zygankow (18.) und Antonio Rüdiger (23./Eigentor) für die Gäste aus der Ukraine nicht nur die Partie. Sie deckten auch die Defensivschwächen bei den Gastgebern auf. Man müsse «kompromissloser verteidigen», rügte Flick. Nach einem Patzer des Freiburgers Matthias Ginter erhöhte der herausragende Zygankow (56.). Mit «Werder Bremen»-Rufen quittierten die Zuschauer den erschreckenden DFB-Auftritt.
«Das ist das, was wir abstellen müssen: Die Fehler hinten und vorne die Chancenverwertung», monierte Kimmich. Und Torwart Kevin Trapp fügte hinzu: «Individuelle Fehler können passieren, bei den anderen Situationen müssen wir es besser in den Griff bekommen. Wir haben noch ein Jahr bis zur EM. Bis dahin müssen wir die Dinge abstellen.»
Auch wenn die Benefiz-Partie im Zeichen der Ukraine-Unterstützung stand, war es aus DFB-Sicht ein sportlich bedenklicher Abend. Pfiffe gab es zudem für die Füllkrug-Auswechslung zur Pause. Verletzungsgründe hatte diese nicht.
Spiel gegen den Krieg
Dass es mehr als nur um Fußball ging, war an diesem Tag bei hochsommerlichen Temperaturen in der Bremer Arena klar. «Stop War – Wir gemeinsam für Frieden», stand auf einer überdimensionalen ukrainischen Fahne außen am Stadion, beide Teams liefen begleitet von 22 Flüchtlingskinder ins Stadion ein. Auf der Tribüne verfolgten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev nebeneinander das Spiel. Steinmeier bezeichnete das Spiel als «ein Zeichen der Freundschaft und der Solidarität».
Es ging für das DFB-Team gut los: Füllkrug verpasste nach einem Fehlpass von 100-Millionen-Mann Mudryk nach 90 Sekunden die Führung. Kurz darauf war der Bremer in seinem Stadion doch am Führungstor beteiligt. Nach einem Schuss von Wolf – die Aktion wurde sehenswert von Kimmich eingeleitet – fälschte der Bremer den Ball unhaltbar ab.
Doch wie schon bei der bedenklichen 2:3-Pleite gegen Belgien im März zeigte sich das DFB-Team im Defensivverhalten unreif. Die von Flick erstmals getestete Dreier-Abwehrkette mit Nico Schlotterbeck, Matthias Ginter und Rüdiger war löchrig. Das erste Gegentor leitete dabei der Dortmunder Julian Brandt mit einem Fehlpass ein, während Schlotterbeck viel zu weit weg von seinem Gegenspieler stand.
Schlotterbeck nicht auf der Höhe
Von einem deutschen Schönheitsfehler konnte keine Rede mehr sein. Nachdem David Raum unter Druck den Ball verlor und Schlotterbeck wieder nicht auf der Höhe war, musste Trapp in seinem ersten Länderspiel seit gut 15 Monaten erneut hinter sich greifen. Rüdiger hatte den schwachen Schuss von Mudryk ins eigene Tor gelenkt. Ein Freistoß von Leroy Sané an die Latte (45.+3) ließ die Fans noch einmal aufspringen.
Flick wollt das Spiel nach der Pause wenden. Als Ginter ein halbhohes Zuspiel von Brandt nicht unter Kontrolle bringen konnte, nahm Artem Dowbyk das Geschenk dankend an und legte mustergültig für Doppeltorschütze Zygankow auf. Der Unmut der Fans nahm von Minute zu Minute zu. Immerhin blieb eine weitere Niederlage erspart, weil das deutsche Team nicht aufgab und vor allem Havertz erst traf und dann den Elfmeter herausholte.