Aus dem «interessanten Gedanken» von Julian Nagelsmann wird Realität. Und das hat Folgen. Mit dem Comeback von Toni Kroos (34) wird keine vier Monate vor dem EM-Anpfiff ein Reizpunkt in der Fußball-Nationalmannschaft gesetzt. Der Bundestrainer verfolgt offenbar einen speziellen Plan, um die lange Zeit der Enttäuschungen zu stoppen. Ob dieser aufgeht, liegt aber nicht nur an Kroos. Ein Restrisiko bleibt für den Weltmeister von 2014 und für Nagelsmann.
Warum holt Julian Nagelsmann Toni Kroos zurück in die Nationalmannschaft?
Der Bundestrainer war konsterniert und vielleicht sogar geschockt. Die November-Niederlagen gegen die Türkei (2:3) und in Österreich (0:2) verdeutlichten Nagelsmann, dass er seine DFB-Elf überschätzt hatte. Die Mutmacher-Spiele in Übersee gegen die USA (3:1) und Mexiko (2:2) bei seinem Debüt einen Monat zuvor waren Muster ohne Wert.
Eine Erkenntnis: Die vielen hoch veranlagten Nationalspieler zerfallen kollektiv als Team beim kleinsten Widerstand, haben keine Handlungssicherheit und kein Sieger-Ego. Genau diese Attribute bietet Titelsammler Kroos wie kein anderer deutscher Fußballer auch nach fast drei Jahren Länderspielpause.
Was kann Kroos dem Team noch geben?
Ruhe am Ball, na klar. Die ist garantiert. Und ein gesundes Selbstbewusstsein als Star von Real Madrid. Nagelsmann holt sich aber auch einen Verbündeten für schwierige Momente abseits des Platzes. Kroos kann für das Team einerseits nach außen ein Prellbock sein, wenn die Kritik überbordend werden sollte, und nach innen vielfältig wirken, als Provokateur und als Entschleuniger – beide Fähigkeiten hat der 106-malige Nationalspieler sicherlich.
Mit seiner Erfahrung und seinem Fußball-Intellekt ist er zudem ein Seismograf. Ein solcher war er auch schon im Frühjahr 2018, als er vor vielen anderen das drohende WM-Debakel erahnte. Verhindern konnte er es dann aber selbst genauso wenig wie die nächste Turnier-Enttäuschung bei der EM 2021 vor seinem nun revidierten Rücktritt. Die Zeit von Kroos schien mit dem Ende der Ära von Bundestrainer Joachim Löw abgelaufen.
Wie verändert sich jetzt das Spielsystem der Mannschaft?
Kroos wird spielen. Nicht nur bei den März-Tests in Frankreich und gegen die Niederlande, sondern auch beim Heim-Turnier. Das ist klar. Sich selbst via Instagram das Turnier-Ticket auszustellen, das hat es in der deutschen Turniergeschichte so noch nicht gegeben.
Ein Platz in der Zentrale ist damit also belegt – und die große Frage ist, wer spielt neben Kroos? Vielleicht baut Nagelsmann auf einen echten Abräumer auf der Sechs wie Leverkusens Robert Andrich. Joshua Kimmich? Wird sehr sicher nach hinten rechts versetzt. Ilkay Gündogan? Den Kapitän sieht Nagelsmann offenbar weiter vorn – das könnte dann zulasten von Jamal Musiala oder Florian Wirtz gehen. Sollen dennoch beide Jungstars spielen, wäre eventuell für Leroy Sané oder Kai Havertz kein Platz mehr – eine Kettenreaktion setzt sich in Gang. Routinier Thomas Müller oder Leon Goretzka könnten sogar als Härtefälle ganz aus dem Aufgebot fliegen.
Wichtig ist Nagelsmann die Stabilität. Nicht ohne Grund hatte Antonio Rüdiger die Rückkehr seines Real-Kollegen Kroos als Erster öffentlich propagiert. Als Innenverteidiger musste er zuletzt viel zu oft hinterherlaufen, wenn weiter vorn Lücken klafften. Deutschland wird mit Kroos langsamer und kontrollierter spielen.
Welche Auswirkung hat das Comeback auf die Team-Hierarchie?
Die «Generation Kimmich», jener einst verheißungsvolle und zuletzt besonders kritisch beäugte Jahrgang 1995/96, hat seinen Führungsanspruch endgültig eingebüßt. Nagelsmann baut auf das Prinzip 30+. Neben Kroos (34) sind auch Manuel Neuer (37) und Mats Hummels (35) reaktivierte Fix-Größen. Gündogan (33) und Niclas Füllkrug (31) sind auch schon im gleichen Lebensjahrzehnt wie Nagelsmann (36) selbst. Das könnte manchem ehrgeizigen Spieler aus dem Mittelbau nicht passen. Kroos galt zudem schon immer als Eigenbrötler, der verbal auch piesacken kann. Als große Integrationsfigur taugt er eher nicht. Dieses Wagnis nimmt Nagelsmann mit zur EM.