Joseph Blatter mühte sich zu einem kurzen Lächeln, als er jene weiße Karte aus dem Briefumschlag zog, die den Weltfußball in jahrelange, hitzige sowie kontroverse Diskussionen und Skandale stürzen sollte.
«Katar», rief der damalige FIFA-Präsident vor elf Jahren in den Zürcher Saal. An diesem Sonntag (21. November) sind es nur noch zwölf Monate bis zum Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft 2022, die für Millionen Fans und etliche Kritiker niemals an das kleine Emirat hätte vergeben werden sollen – im Spin der Organisatoren aber der größte vorstellbare Segen für die gesamte Golfregion ist.
Amnesty kritisiert «alte ausbeuterische Praktiken»
Amnesty International kritisierte in einem am 16. November veröffentlichten Bericht weiterhin weit verbreitete Verstöße gegen die Rechte von Arbeitsmigranten. Im vergangenen Jahrzehnt waren Tausende von ihnen auf den Baustellen Katars ausgebeutet worden – und gestorben. Die lautstarke internationale Kritik führte zu zumindest auf dem Papier tiefgreifenden Reformen, die bei der FIFA und dem Organisationskomitee gerne dem WM-Zuschlag zugesprochen werden. «Die Kraft des Fußball», heißt es, habe so viel bewirkt. Ist das so?
Die Fortschritte infolge von Gesetzesänderungen stagnierten, schreibt Amnesty, «alte ausbeuterische Praktiken» gewännen wieder die Oberhand. Katar setze Reformen nicht rigoros um, überwache ihre Umsetzung nicht und ziehe Verantwortliche für Verstöße nicht zur Rechenschaft. So seien Arbeitsmigranten weiterhin skrupellosen Arbeitgebern ausgeliefert.
Darauf angesprochen kritisieren hochrangige Funktionäre im Organisationskomitee ein Alles-oder-Nichts-Denken, nirgendwo auf der Welt würden sich alle an die Gesetze halten. Die Strafverfolgung bei Verstößen gegen die neuen Arbeitsrechte sei aber rigoros, das jahrelang heftig kritisierte Kafala-System abgeschafft.
Zahlreiche ungeahndete Verstöße
Dieses auch in anderen Ländern der Region verbreitete System bindet ausländische Arbeiter fest an einen einheimischen Bürgen wie einen Arbeitgeber. Die Abschaffung in Katar hatte die UN-Arbeitsorganisation ILO als «historischen Schritt» gewürdigt. Arbeitsmigranten können jetzt laut Gesetz ohne Erlaubnis ihren Arbeitgeber wechseln. Auch einen Mindestlohn führte Katar ein. Mit den Reformen ging das Emirat weiter als alle anderen Länder am Golf.
Amnesty beklagt jedoch zahlreiche Verstöße, die ungeahndet blieben. Die Migranten seien trotz anderslautender Zusagen de facto weiter an ihren Sponsor gebunden. Wollten sie den Job wechseln, sähen sie sich Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt. Zudem blieben viele Todesfälle unter den Arbeitsmigranten ungeklärt. Trotz klarer Hinweise auf Hitzestress bleibe es extrem schwierig zu erfahren, in wie vielen Fällen die Arbeitsbedingungen für den Tod verantwortlich seien. Betroffene Familien erhielten keine Kompensation.
«Boykott wäre jetzt kontraproduktiv»
In Deutschland schrecken diese Berichte aus dem 4500 Kilometer entfernten Emirat auf. Umfragen ergeben immer wieder, dass die WM boykottiert werden müsse. Menschenrechtsorganisationen raten davon ab. «Nach all den Verbesserungen – auch wenn man da jetzt nicht Entwarnung geben muss – wäre jetzt ein Boykott absolut kontraproduktiv», sagte auch Dietmar Schäfers, Vizepräsident der IG BAU und der internationalen Bau- und Holzarbeiter-Gewerkschaft BHI, im «Kicker»-Interview. «Ein Boykott hilft den Menschen dort nicht. Er würde die Gefahr in sich bergen, dass es Stillstand gibt, und Stillstand können die Leute da unten nicht gebrauchen.»
In dem reichen Golfemirat leben rund zwei Millionen Arbeitsmigranten. Sie kommen vor allem aus armen Ländern wie Bangladesch, Nepal oder Indien. Für die WM, die vom 21. November bis zum Nationalfeiertag am 18. Dezember 2022 in acht Stadien gespielt wird, rüstet Katar massiv auf. Die hochmodernen Arenen, die teils komplett neue Infrastruktur, Hunderte Hotels, die auf den Ansturm von Millionen Fans hoffen. Baustellen für die WM und Baustellen für den bis 2030 geplanten Aufschwung Katars lassen sich oft nicht voneinander trennen.
Protest der DFB-Spieler verblasst
Den Deutschen Fußball-Bund und die Nationalmannschaft, die sich Anfang Oktober als erste Nation nach dem Gastgeber für die Endrunde qualifizierte, wird der politische Aspekt des Turniers noch lange begleiten. Von den Quali-Spielen im vergangenen März gab es eine T-Shirt- und Spruchband-Aktion der Spieler für die Einhaltung der Menschenrechte. Die Erinnerung daran verblasst schnell.
«Der DFB sollte die Menschenrechtsverletzungen offen ansprechen», sagte Wenzel Michalski von Human Rights Watch zuletzt in einem «Tagesspiegel»-Interview. «Er sollte Spieler, die motiviert sind, etwas zu sagen, in ihrer Meinungsäußerungsfreiheit nicht beschneiden, sondern sie unterstützen und vor Angriffen in Schutz nehmen.»
Korruptionsvorwürfe um die WM-Vergabe
Der Druck für eine klare Positionierung dürfte weiter zunehmen. In München protestierten die Fans zuletzt in der Allianz Arena erneut mit einem riesigen Plakat gegen die Sponsoren-Beziehung des FC Bayern zu Katar, das im Weltsport Milliarden investiert. An diesem Wochenende wird erstmals ein Formel-1-Rennen in Katar ausgerichtet. Aushängeschild ist der französische Fußballclub Paris Saint-Germain, der komplett in katarischer Hand ist. Die Geschäfte mit Frankreich spielten damals auch in die Berichterstattung um die WM-Vergabe.
Verbrieft ist ein Abendessen des damaligen UEFA-Präsidenten Michel Platini im Élysée-Palast vor der Entscheidung mit Frankreichs Ex-Staatschef Nicolas Sarkozy und dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani. Letzterer jubelte wenig später in Zürich, als Blatter die Karte mit der Aufschrift «Qatar» aus dem Umschlag zog. Die Wahl traf das FIFA-Exekutivkomitee, das in den Nullerjahren und bis zum großen Knall 2015 einem Selbstbedienungsladen glich. Von den damaligen Funktionären wurden etliche gesperrt und angeklagt. Korruptionsvorwürfe rund um die WM-Vergabe wurden nie gerichtsfest bewiesen – und von Katar deutlich zurückgewiesen.