Julian Nagelsmann thronte kurz vor Mitternacht im großen Pressesaal der Allianz Arena gelöst auf dem Podium und war in Plauderlaune.
Der Schnellsprecher scherzte nach dem nächsten Torfest des FC Bayern München in der Champions League beim 5:0 (2:0) gegen Dynamo Kiew sogar über seinen erstaunlich kurzen Kabinenaufenthalt in der Halbzeitpause. «Ich musste nicht Pipi», klärte Nagelsmann mit einem verschmitzten Lächeln auf.
Der 34-Jährige hat in München nicht mal die obligatorische 100-Tage-Frist benötigt, um als Nachfolger von Sieben-Titel-Coach Hansi Flick im Fußball des Rekordchampions einen eigenen Fußabdruck zu hinterlassen. Beim zweiten Gruppensieg gegen Kiew konnte sich davon als Tribünengast auch der ins Bundestrainer-Amt gewechselte Flick überzeugen. Besonders auffällig ist: Zur bekannten Lust am Toreschießen gesellt sich plötzlich die Freude am Toreverhindern.
Neunter Sieg in Serie
«Diese Gier in beide Richtungen zu entwickeln, bedeutet mir viel», sagte Nagelsmann, dessen Modifizierungen greifen. «Man kann sich ein Spiel nicht malen, wie es perfekt aussieht. Aber wir haben es über weite Strecken gut gemacht», sagte er nach dem neunten Sieg am Stück und dem nächsten Zeichen der Stärke an die Konkurrenz in Europa.
Es war ein runder Abend, an dem sogar erstmals laute «Leroy, Leroy»-Rufe durch die mit 25.000 Zuschauern gefüllte Arena hallten. «Jeder von uns hat es sehr genossen», sagte Sané, der vor einigen Wochen noch im eigenen Stadion Pfiffe verkraften musste. Der Künstler hat unter Nagelsmann das Arbeiten fürs Team erlernt. Er bleibt nach Ballverlusten nicht stehen, sondern erkämpft den Ball zurück. Er hat seine Körpersprache aktiv verändert. Und er verzückt die Fans wie bei seinem tollen, aber ungewollten Flankenschuss zum 4:0: «Da habe ich Glück gehabt, dass in dem Moment meine Technik nicht so gut war.»
Sané steht exemplarisch für eine neue Zeit. Auch Verteidiger Niklas Süle blüht sichtlich auf und wurde ebenfalls mit Sprechchören gefeiert. «Es ist sehr schnell gegangen, dass man Julians Handschrift sieht», sagte Bayern-Boss Oliver Kahn durchaus erstaunt bei DAZN.
Nagelsmann kommt an
Die holprige Vorbereitung ohne Testspielsieg, die Dauerdebatte um die Qualität des Kaders nach den Abgängen von David Alaba oder Jérôme Boateng sind Schnee von gestern. Nagelsmann hat die hochdekorierten Stars wie Weltfußballer Robert Lewandowski rasch hinter sich versammelt. Er kommt mit seiner offenen Art an. Und er stachelt den Ehrgeiz der Allesgewinner mit neuen Fußball-Reizen Tag für Tag an.
«Wir wollen die Aufgaben des Trainers weiter umsetzen. Ich bin schon gespannt, wie sie sein werden», sagte Nationalspieler Leon Goretzka. In jedem Spiel gehe es darum, «den nächsten Step zu machen».
Der Austausch mit dem jungen Chef finde «auf Augenhöhe» statt, wie der 35 Jahre alte Kapitän Manuel Neuer bemerkte. Der Trainer sei «verspielt» und «trotzdem sehr dominant. Er hat uns von Anfang an gezeigt, wie er Fußball spielen will.» Nagelsmann spricht dabei von Anpassungen. «Wir spielen schon mit Ball eine etwas andere Struktur.» Dazu komme «mehr Variabilität in den Grundordnungen». Nagelsmann mag die Dreierkette. Einzelne Positionen werden anders ausgefüllt, Sané etwa klebt nicht mehr am Flügel, sondern agiert häufig im Halbraum.
Bayern-Express flott unterwegs
«Ich freue mich, dass die Spieler zufrieden sind, dass der Club zufrieden ist», sagte Nagelsmann. Kommende Woche ist er 100 Tage im Amt. Sein Bayern-Express rauscht nach dem 3:0 in Barcelona und den fünf Toren von Doppelpacker Lewandowski, Serge Gnabry, Sané und Eric Maxim Choupo-Moting durch die Gruppenphase der Königsklasse.
Die Preise aber werden nicht im Herbst, sondern erst im Frühjahr 2022 verteilt. Daran erinnerte am Mittwochabend auch Kapitän Neuer: «Für uns ist das Wichtigste, dass die Spieler gesund bleiben. Gerade in der heißen Phase der Saison war es im März, April häufiger der Fall, dass wir den einen oder anderen Spieler nicht an Bord hatten – und das hat dann manchmal weg getan.»
Auch Nagelsmann weiß, dass er als Trainer in den K.o.-Spielen gegen Titelrivalen wie Paris Saint-Germain Ausnahmekönner wie den schon wieder am Fließband treffenden Lewandowski unbedingt benötigen wird: «Wenn du erfolgreich sein willst, brauchst du diese Einzelspielerqualität. Das kann kein Matchplan der Welt ersetzen.»