Besuch vom Trainer der Basketball-Weltmeister, die Champions-League-Sieger Toni Kroos und Antonio Rüdiger erstmals auf dem Platz und das Bekenntnis von Julian Nagelsmann, auch am helllichten Tag vom EM-Triumph zu träumen: Kurz vor der EM-Generalprobe gegen Griechenland wehte über das Trainingsgelände der Fußball-Nationalmannschaft ein geradezu verlockender Titelhauch. Das war ganz nach dem Geschmack des Bundestrainers. Die Tor-Tristesse im Ukraine-Test war kein großes Thema mehr in Herzogenaurach.
Als nach der Übungseinheit vier Schulmädchen Rüdiger auf dem Pressepodium die Frage nach seinem besten Fußball-Erlebnis stellen durften, war die Antwort verblüffend und passend zugleich. Nicht der frische Sieg in der Königsklasse mit Real Madrid am Samstag in Wembley gegen Borussia Dortmund, war seine Antwort. Nagelsmanns Abwehrchef denkt am liebsten an den Sieg beim Confederations Cup 2017 zurück.
Ein vergleichsweise kleiner Titel in seiner Sammlung. Aber der bislang letzte, den die Nationalmannschaft vor den folgenden drei Turnier-Pleiten feierte. «Das war mein schönster Moment», sagte Rüdiger zur schwarz-rot-goldenen Fußball-Nostalgie.
Geht es nach Nagelsmann, sollen Rüdiger und Kroos als Königsklassen-Helden jetzt nicht nur Vorbild, Anstifter und Motivator im EM-Kader sein. «Was wir aus Madrid mitnehmen können, ist der Killerinstinkt», sagte Rüdiger recht plakativ. Jene mysteriöse Gabe, ein Spiel doch noch immer zu gewinnen, ist in den kommenden Wochen eine willkommene Fähigkeit.
Nagelsmann erlaubt Tagträume
Auf der Zielgeraden zum Eröffnungsspiel am 14. Juni in München gegen Schottland dürfen alle sogar mit Trainer-Erlaubnis einen Monat vorausdenken. «Man sollte schon davon träumen und sich auch bei dem ein oder anderen Tagtraum mal vorstellen, wie es ist im Finale zu sein oder vielleicht auch das Ding sogar zu gewinnen», sagte der Bundestrainer bei «Spielmacher – der EM-Podcast von 360Media mit Sebastian Hellmann».
Einer der weiß, wie es ist, in einem großen Finale zu stehen und dieses zu gewinnen, kam am Mittwoch mit Rudi Völler zum Trainingsplatz geschlendert. Gordon Herbert, Coach der deutschen Basketball-Weltmeister, war dort schnell ins Gespräch mit Nagelsmann vertieft. Es wurde gefachsimpelt und auch gelacht. Herbert ist für Nagelsmann eine Art Spiritus rector in Titelfragen. Dessen WM-Prinzip der klaren Rollenverteilung für seine Basketballer hat der Bundestrainer für die EM der Fußballer kopiert – bislang mit vielversprechendem Erfolg.
«Ich habe neulich eine Dokumentation über die deutschen Basketballer angeschaut. Man konnte die Gespräche zwischen Trainer und Spielern vor der WM beobachten. Da wurde klar: Jeder Einzelne kannte Monate vor dem Turnier seine Rolle», erzählte Nagelsmann kürzlich. Rüdiger gefällt das: «Jeder weiß, wo er dran ist, dann gibt es keine Komplikationen», sagte er. Den passenden Zusatz, nicht wie bei den letzten Turnieren, verkniff er sich wohl.
Basketballer für Rüdiger Vorbilder
Rüdiger verpasste eine erste Begegnung mit Herbert, weil er vor seinem Presseauftritt noch duschen wollte. Er freute sich aber auf einen Vortrag des Kanadiers. «Die Basketball-Jungs haben einen großartigen Erfolg gehabt. Und natürlich können wir das eine oder andere von ihnen lernen», sagte der 31-Jährige. Der Real-Abräumer ist selbst ein Gewinner der neuen Philosophie. «Zu meiner Rolle hat Julian gesagt, ich soll ein Leader sein», erzählte Rüdiger.
Die Vorbereitung auf den letzten Test vor dem EM-Anpfiff konnte Nagelsmann vor seinem erfolgreichen Trainingsgast mit der bislang größten Trainingsgruppe bestreiten. 27 Spieler hatte er in den bisher zehn Tagen zeitgleich noch nicht auf dem Platz. Maximilian MIttelstädt fehlte wegen notwendiger Belastungssteuerung, U21-Gastspieler Brajan Gruda hatte muskuläre Probleme. Nach dem Griechenland-Test am Freitag in Mönchengladbach wird Nagelsmann seinen Kader auf die EM-Größe von 26 Akteuren reduzieren müssen.
Sollte im Eröffnungsspiel gegen Schottland oder einer der folgenden Partien etwas schiefgehen, hat Nagelsmann einen Plan B einstudiert: «Natürlich haben wir schon einen Notfallplan, was passiert, wenn noch zehn Minuten zu spielen sind und wir unbedingt ein Tor brauchen. Den haben wir auch vorher trainiert, sodass die Spieler wissen, wenn ich ‚Notfallplan‘ reinrufe, was müssen wir jetzt machen, die Abläufe sind drin.»