Erst ein lauter Knall, dann schallendes Gelächter. Noch bevor Thomas Müller geräuschvoll das DFB-Podium betritt, wird fröhlich geraunt: Typisch Thomas Müller. Bestes Entertainment ist bei ihm garantiert, und wenn es durch ein unverschuldetes Poltern ist.
Auf die Rolle des Hofnarren im Schloss Blankenhain hat das Bayern-Urgestein aber keine Lust. «Ich habe nicht den Auftrag, Leute zu unterhalten. Dadurch kommen wir nicht weit», sagte der 34-Jährige im Gewölbe des Medienzentrums der Fußball-Nationalmannschaft in Thüringen. «Wir leben davon, dass jeder sich optimal einbringen kann», sagt der Turnierveteran.
Müller ist bei seiner vierten und aller sportlichen Wahrscheinlichkeit nach letzten Europameisterschaft natürlich viel mehr als ein Maskottchen. Er hat noch einmal Großes vor, will auch seinen persönlichen EM-Fluch (kein Tor, kein Titel) vertreiben. Er ist der erste Spieler, der in der Vorbereitung öffentlich spricht. Er ist es, der von Julian Nagelsmann auserkoren ist, auch die Notwendigkeiten für den sportlichen Weg zum ersehnten Titel zu beschreiben.
«Wir brauchen uns auf keinen Fall zu verstecken, aber wir brauchen auch nicht so zu tun, als ob uns alles zufliegt», referiert Müller über den sportlichen Ist-Zustand zweieinhalb Wochen vor dem Eröffnungsspiel gegen Schottland in der Heimat München. Müller weiß, am 14. Juni muss es klappen. Diese «Initialzündung ist wichtig», sagt er, das «löst die mentalen Fesseln», prophezeit der Routinier mit der Erfahrung von vier WM- und drei EM-Turnieren.
Alles, nur kein Pausenclown
Nagelsmann hat ihm in seinem außergewöhnlichen Rollen-Skript auch diese besondere Aufgabe zugewiesen. In einer Eloge an Komplimenten beschrieb der Bundestrainer ihn bei der Kader-Bekanntgabe als «Connector» (Verbinder), als «Schmiermittel», als einen, der «mit den Jodlern und Rappern» in der Nationalmannschaft gleichermaßen gut umgehen könne.
Dass Müller ein Anführer ist, daran gibt es überhaupt keine Zweifel. Das ist sein Naturell. Er ist die Frohnatur. Er hat das Gespür, was die Fans bewegt. Er fühlt sich selbst noch wie einer. «Es gibt dazu keine Alternative, als aus dem Häuschen zu sein», beschreibt er sein Gefühl beim Blick auf die Nationalmannschaft.
Auch beim öffentlichen Training in Jena ging er natürlich als Erster auf den Platz, trieb die Kollegen an, machte für die Fans den Einpeitscher. Auch ein schmerzhafter Schlag auf das linke Knie konnte ihn nicht bremsen. Den Gute-Laune-Onkel für eine positive Grundstimmung kann er schon spielen, aber eine sportliche Komponente will er nicht aus den Augen verlieren. «Ich weiß, was ich kann. Ich bin ein berechenbarer Spieler. Ich mache seit 15 Jahren das Gleiche», sagte er und erntet dafür natürlich wieder Lacher.
Müller achtet auf Grammatik
Gefallen hat Nagelsmann, wie Müller den jungen Bayern-Kollegen Aleksandar Pavlovic bei der Ankunft in Thüringen unter die Fittiche nahm, jedem DFB-Mitarbeiter vorstellte. Der Routinier sieht hier und da bei manchen jungen Profis im Kader noch einen Erziehungsauftrag – und sei es in deutscher Grammatik. «Ab und zu ermahne ich schon, dass man ein ‚Der, Die, Das‘ in den Satz einbaut», sagte Müller, der über den Jugendslang auch staunt. Er selbst sei eben eher Jodler als Rapper. Aber: «Man lernt nie aus.»
Über ein Karriereende im DFB-Trikot wird er wohl – anders als sein Weggefährte Toni Kroos – spontan nach dem Turnier entscheiden. «Ich bin jetzt noch nicht am Abtreten, sondern denke an die Aufgaben, die vor uns liegen. Alles andere wird man dann sehen.» Bei 45 Toren in 128 Länderspielen steht Müller. Mit weiteren Einsätzen könnte er in beiden DFB-Ranglisten Lukas Podolski (130/49) einholen, der in der Spätphase seiner DFB-Karriere in andere Weise als Unterhaltungskünstler fungierte.
Im Konglomerat an Offensivkräften muss Müller aber seinen Platz finden. Jamal Musiala, Ilkay Gündogan, Florian Wirtz, Kai Havertz, Niclas Füllkrug, Leroy Sané – da ist viel Konkurrenz. Hauptrollen auf dem Platz hat Müller von Nagelsmann nicht versprochen bekommen. «Er wird natürlich Einsätze kriegen, das wird nicht immer von Beginn an sein», sagte der Bundestrainer.
Noch kein EM-Tor
Wie lang «Radio Müller» schon «on air» ist, macht die deutsche EM-Historie deutlich. Das letzte deutsche EM-Spiel ohne ihn war das Finale 2008 in Wien gegen Spanien (0:1). Bei allen folgenden 15 Partien bei den Turnieren 2012, 2016, 2021 stand der Bayer auf dem Platz. Und das – auch dies eine komische Fußnote – nicht nur ohne die in allen anderen wichtigen Wettbewerben von WM bis Champions League gelungene Titel-Krönung, sondern ohne ein einziges Tor. Zehn WM-Treffer, null EM-Treffer, diese Bilanz findet nicht nur Müller schief.
In besonderer Weise haftengeblieben sind eine unerwartete Startelf-Ausbootung vor dem verlorenen Halbfinale 2012 gegen Italien, mehrere Pfostenschüsse im mit 1:0 gewonnenen Gruppenspiel gegen Nordirland 2016 und die vergebene Riesenchance zum Ausgleich im Achtelfinale (0:2) vor drei Jahren in England. Der Turnier-K.o. und das Ende der Bundestrainer-Ära von Joachim Löw waren die Folge. Müller findet, dass dies eine unzulässige Reduzierung sei, um seine EM-Leiden in einer gewollten Richtung darzustellen. Aber: «Ich würde gerne ein Tor erzielen, wenn es dem Erfolg zuträglich ist.»