Dass ein einzelner Spieler von der gewaltigen Dortmunder Südtribüne gefordert und gefeiert wird, hat Seltenheitswert. Es hatte etwas Ikonisches, als Borussia Dortmunds Club-Idol Marco Reus nach der 5:1-Gala gegen den bemitleidenswerten FC Augsburg vor die «Süd» zitiert wurde, er sichtlich bewegt immer wieder die Arme gen der 25.000 Menschen reckte und ihm minutenlang für seine bisherige Karriere gehuldigt wurde.
«Unbeschreiblich. Das ist durch nichts zu ersetzen», stammelte der 34 Jahre alte Ex-Nationalspieler später über diesen Moment, der ihm sichtlich nahe ging. Nach der Saison wird der dann 35 Jahre alte Ausnahmespieler seinen Herzensverein nach zwölf Jahren verlassen, um seine Karriere im Ausland ausklingen zu lassen. Das hatte Reus bereits am Freitag angekündigt. «Eine gemeinsame Entscheidung», sagte Dortmunds Sportdirektor Sebastian Kehl, und BVB-Trainer Edin Terzic bemerkte: «Ich habe leider keine Stoppuhr, keine Fernbedienung, die verhindert, dass er am Ende des Monats 35 wird.»
Ex-Kapitän liefert ab
Doch diesen Moment vor der Südtribüne wollten sie ihm noch unbedingt bereiten. Gegen Augsburg durfte der Edeltechniker zum ersten Mal seit knapp zwei Monaten wieder von Beginn an in einem Bundesligaspiel ran. Trotz der XXL-Rotation, mit der Terzic den Großteil des Stammpersonals für den Champions-League-Kracher am Dienstag im Halbfinal-Rückspiel bei Paris Saint-Germain schonte, war das gesamte Team hochmotiviert, Reus ein besonderes Spiel zu schenken. Und der Ex-Kapitän lieferte ab.
«Alles, was er mit dem Ball gemacht hat, war Extraklasse», schwärmte Terzic, der voller Pathos und ebenfalls sichtbar und hörbar bewegt nach der Partie über einen besonderen Spieler sprach. Mit einem Treffer und zwei Torvorlagen wurde Reus zum Spieler der Partie. Die Liebesbekundungen der gut 80.000 für einen laut Kehl «der größten Spieler, den der BVB hervorgebracht hat» steigerten sich während des Spiels, bei Reus‘ geplanter Auswechslung nach gut einer Stunde und eben nach dem Spiel vor der Südtribüne.
«Ich habe nie gedacht, dass ich in meiner Karriere so ein Spiel erlebe, in der die Fans einen so honorieren», sagte Reus im ZDF. «Das hat er sich absolut verdient. Das ist eine einmalige Geschichte im modernen Fußball. Dass sich jemand so hingibt für einen Verein», sagte Terzic später pathetisch und erklärte ihn zudem «zu einem der Besten der Welt».
Beide Aspekte in Terzics Ausführungen waren natürlich etwas übertrieben. Denn zur Wahrheit gehört nicht nur, dass Reus in seinen zwölf Jahren nur zweimal den DFB-Pokal, aber nie die Meisterschaft mit dem BVB gewann und auch mit der Nationalmannschaft keine Titel holte. Im Weltmeisterjahr 2014 war er wie zu oft in seiner Karriere verletzt. Zudem unterschlug Terzic bei seinen Ausführungen über den gebürtigen Dortmunder, der «über 20 Jahre im Verein verbracht hat», dass Reus natürlich einst in der Jugend ausgemustert worden war und 2012 für 17 Millionen Euro von Borussia Mönchengladbach zurückgekauft werden musste.
Reus will nach Wembley
Es ist eine der großen Errungenschaften der titelarmen Karriere von Reus, dass er nicht nur in Dortmund, sondern auch in Mönchengladbach als Legende verehrt wird. Auch am Niederrhein gilt er bis heute als einer der besten Spieler der Neuzeit der anderen Borussia.
Nun hat Reus im Winter seiner Karriere noch einmal die Chance, etwas ganz Besonderes zu erreichen und die quälende Erkenntnis, dass da einiges mehr in seiner Karriere möglich gewesen wäre, zu schmälern. «Ich wünsche mir, dass die Marco-Reus-Festspiele noch weitergehen», sagte Terzic, der damit ausdrücklich nicht nur dessen restliche Bundesliga-Abschiedstour meinte. Die Motivation beim BVB ist groß, auch Reus noch einmal ein Champions-League-Finale zu schenken.
«Auch da würde sich ein Kreis schließen», sagte Terzic vor dem Halbfinal-Rückspiel in Paris, wo die Dortmunder nach dem 1:0 im Hinspiel die Chance haben, wie schon 2013 in Reus‘ erster Profisaison beim BVB das Finale in Wembley zu erreichen. «Das wäre der perfekte Rahmen für ihn, nun nochmal dahinzufahren», befand Terzic.
Doch Reus denkt längst weiter und größer. Mit Blick auf die feiernden BVB-Fans sagte er: «Ich hoffe, dass wir das auch am 1. Juni in Wembley sehen werden und dann hoffentlich auch noch mehr Grund zu feiern haben. Das wäre auf jeden Fall dann der krönende Abschluss.»