Den ersten großen Schock haben Stefan Kuntz und seine Nationalspieler mittlerweile weggesteckt. Doch aus den Köpfen ist das verheerende Erdbeben mit mehr als 50.000 Toten in der Türkei nach emotionalen und aufwühlenden Wochen noch lange nicht verschwunden.
Die Nachrichten aus dem Katastrophengebiet begleiten den deutschen Trainer und sein Team auch am Samstag, wenn der Weg zum großen Ziel Fußball-EM 2024 mit dem brisanten Qualifikationsduell beim Nachbarn Armenien startet. «Du gibst den Menschen Freude und Hoffnung. Das ist für uns neben der sportlichen Qualifikation dieses Mal das Wichtigste», sagte der 60-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.
Das Ohnmachtsgefühl ist groß
Auch viele seiner Spieler waren von dem Beben zumindest indirekt betroffen. «Es ist ein so großes Gebiet – da kennt jeder irgendjemanden, der dort wohnt», berichtete der frühere deutsche U21-Trainer vor dem Länderspiel-Doppelpack mit der Partie gegen den WM-Dritten Kroatien am Dienstag.
Zu Beginn der Länderspielphase nahm sich der Ex-Nationalspieler daher mit der Mannschaft noch einmal Zeit, um sich über die schrecklichen Bilder und Nachrichten nach dem Erdbeben auszutauschen. «Wir haben zu Beginn eine Sitzung dazu verwendet, darüber zu sprechen. Jetzt konzentrieren wir uns auf das Sportliche.», sagte er.
Kuntz verfolgte die Geschehnisse im Land seines Arbeitgebers, wo er immer wieder viel Zeit verbringt, von Beginn an intensiv. Er machte in Interviews auf die katastrophale Lage der Menschen aufmerksam, sammelte Spenden, blickte fassungslos in die Türkei. «Ich habe noch nie ein solches Ohnmachtsgefühl erlebt», sagte er. Auch Wochen später beschäftigt ihn die Katastrophe noch. «Das Erdbeben ist natürlich noch präsent. Es kommen permanent neue Fragen auf.» Mittlerweile gehe es in den betroffenen Gebieten darum, was mit den Toten geschehe und wie die Überlebenden weitermachen könnten. «Das ist ein fortwährendes Thema. Aber es gibt auch Hoffnung: Zuletzt wurden zum Beispiel neue Häuser gebaut.»
Kuntz will EM-Traum erfüllen
Bei allem Schmerz wollen sich Kuntz und seine Spieler nun auf die sportlichen Ziele konzentrieren und dem gebeutelten Land den großen Traum von der EM erfüllen. «Das ist etwas sehr Besonderes. Generell sind die Türken sehr fußballverrückt», sagte Kuntz. «Dazu kommt dieses Mal, dass die Menschen sich unbedingt ihre Nationalmannschaft bei der EM in Deutschland wünschen.» In Salih Özcan von Borussia Dortmund, dem Hoffenheimer Ozan Kabak, dem früheren Bundesliga-Profi Hakan Calhanoglu oder dem Ex-Darmstädter Cenk Tosun stehen mehrere Profis mit Deutschland-Bezug im Kader.
Auch der Schalker Mehmet Aydin, der in Würselen geboren wurde, gehört erstmals zum Aufgebot. «Es ist eine große Ehre für mich, für die Türkei zu spielen», sagte er. «Wir haben eine gute Mannschaft und unser Ziel ist es, zur EM zu fahren.» Vor allem für die vielen Spieler mit Verbindungen nach Deutschland sei das Turnier 2024 ein besonderes Ziel, sagte Kuntz. «Und die Mannschaft hat natürlich in Deutschland eine sehr große Unterstützung.»
Nach der verpassten WM 2022, als seine Auswahl in den Playoffs scheiterte, ist die EM-Teilnahme auch für Kuntz enorm wichtig. Nach schwächeren Leistungen in der Nations League stand der Coach in der türkischen Öffentlichkeit zeitweise stark in der Kritik. In der Quali-Gruppe mit Lettland und Wales als weitere Gegner will die Türkei mindestens Rang zwei erreichen. «Kroatien und Wales liegen in der Weltrangliste weit vor uns», sagte Kuntz. «Aber wenn wir zur EM wollen, müssen wir uns in dieser Gruppe durchsetzen.»
Zwischen Armenien und Ramadan
Das brisante Duell mit Armenien – das Verhältnis zwischen den Nachbarstaaten ist schwer belastet – und der Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am Donnerstag stellen Kuntz vor zusätzliche Herausforderungen. «Das ist eine sehr ungewöhnliche Vorbereitung für uns», sagte der 60-Jährige.
Spätestens bei der Nationalhymne am Samstag soll aber nur noch das Ziel EM 2024 im Fokus stehen. «Sie können eine Nationalmannschaft erwarten, die alles dafür tun wird, sich für die EM zu qualifizieren», versprach Kuntz. «Und einen Trainer, der selbst den größten Ehrgeiz hat, in Deutschland an der Seitenlinie zu stehen.»