Oliver Bierhoff referierte an jenem Wintertag im dunklen Rollkragenpulli neben einem großen Flachbildfernseher in einer Lounge des Frankfurter Stadions. «Zurück an die Weltspitze», stand in Versalien auf dem Bild.
In «fünf, sechs Jahren», sagte Bierhoff – und das war für den kriselnden Deutschen Fußball-Bund im Februar 2019 nach maßlos enttäuschenden Monaten mit dem Vorrunden-Aus bei der WM im vorausgegangenen Sommer ein hehres Ziel. Und heute – kurz vor dem Anpfiff der umstrittenen und von vielen Unbekannten begleiteten WM ab dem 20. November in Katar?
Beim DFB ist buchstäblich kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Die Frankfurter WM-Arena steht noch, aber Bierhoff und der Verband sind längst umgezogen auf den beeindruckenden Verbandscampus, wo die «Weltspitze»-Maßgabe immer wieder auf den Prüfstein gestellt wird. Als Bundestrainer war bis nach der ebenso enttäuschenden, für Deutschland im Achtelfinale beendeten EM 2021 Joachim Löw angestellt – Hansi Flick erneute die DFB-Auswahl in den vergangenen Monaten merklich und sorgte für neues Selbstverständnis, das auch in Katar breit demonstriert werden soll.
Kader steht am 14. November
«Wir wollen Weltmeister werden», ist der entscheidende Satz, mit dem Flick und sein Kapitän Manuel Neuer längst zitiert wurden. Der Bundestrainer wird am 14. November seinen Kader für die komplizierte Katar-Mission benennen. Die Vorrundenspiele gegen schwer greifbare Japaner (23. November), Mitfavorit Spanien (27. November) und Costa Rica (1. Dezember) haben das Potenzial, die Stimmung in beide Richtungen kippen lassen zu können. Ein furioser Turnierstart scheint ebenso möglich wie Wackelpartien, schlimmstenfalls mit der Wiederholung des 2018er-Spielfilms.
«Bei den Spielern, gerade bei denen, die ihr zweites, drittes Turnier mit uns machen, die sind echt heiß», sagte Bierhoff im Oktober, da schon in den Räumlichkeiten der neuen Akademie. «Die nervt es, dass die bei den letzten Turnieren dieses Erfolgserlebnis nicht hatten. Wichtig wird für uns sein, genau diesen Schwung von Anfang an mitzunehmen und diese positive Stimmung zu haben.»
Flicks WM-Auswahl steht im Grundgerüst längst fest. Die Achse um den zuletzt angeschlagenen Neuer (36), Thomas Müller (33), Leon Goretzka (27), Joshua Kimmich (27) und auch Antonio Rüdiger (29) ist gesetzt, dazu kommen Megatalent Jamal Musiala (19) und die wieder erstarkten Bayern-Profis Leroy Sané (26) und Serge Gnabry (27).
Dass Titelsammler Kai Havertz auch erst 23 Jahre alt ist, wird gerne vergessen. Diskussionen über die Rückkehr der 2014er-Weltmeister Mats Hummels (33) und Mario Götze (30) oder die Berufung von Bremens Niclas Füllkrug (29) gehören zum Vor-Turnier-Geplänkel dazu.
Kimmich: Mental eine ganz andere Situation
Die große Variable bleibt der enorm enge Spielplan bis zum Turnierstart, am Wochenende vor dem Eröffnungsspiel des Gastgebers gegen Ecuador wird noch Bundesliga gespielt. «Es waren jetzt sehr viele Spiele beim FC Bayern, es ging Schlag auf Schlag. Bisher war der Rhythmus aber nicht viel anders als die Jahre zuvor», sagte Kimmich Anfang November kurz vor dem Champions-League-Spiel gegen Inter Mailand. Es sei auch mental eine ganz andere Situation.
«Es ist irgendwie komisch, weil man das Turnier noch nicht so im Kopf hat, wie dann, wenn man es im Sommer hätte und in der Vorbereitung ist», erläuterte Kimmich: «Da liegt der Fokus dann nur auf dem Turnier. Jetzt hat man auch noch ein paar andere Spiele im Kopf.»
In Katar wird die DFB-Auswahl im Norden ins abgeschiedene Zulal Wellness Resort einziehen. Die Bedingungen, so ist zu hören, sind optimal – entsprechend wird ein möglichst langer Aufenthalt angestrebt. Laut Bierhoff wird auch «immer mal wieder» der Besuch von Freunden und Familie ermöglicht. Der DFB-Geschäftsführer und insbesondere DFB-Präsident Bernd Neuendorf werden versuchen, die vielen nicht-sportlichen Themen in Katar vom Team abzulenken.
Bierhoff: Hauptsächlich auf den Sport konzentrieren
«Wir haben uns frühzeitig damit beschäftigt und versuchen, dass die Spieler immer auf dem aktuellen Stand sind», sagte Bierhoff. «Die Hoffnung ist natürlich, dass wir trotzdem während des Turniers uns hauptsächlich auf den Sport konzentrieren können. Wir wollen uns nicht wegducken, wir haben aber auch einen Präsidenten da, der sich des Themas angenommen hat.»
Und so soll in erster Linie für die Spieler – und die Fans – eine gewisse «Freude für das Turnier» geweckt werden, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass es zurück in der Weltspitze endet. Die im «Fan Club Nationalmannschaft» organisierten Anhänger werden zu den deutschen Gruppenspielen aus Dubai eingeflogen. «Was nicht passieren darf, ist, dass am Ende eine Stimmung entsteht, das ist eh ein Shit-Turnier, keinen juckt es, das läuft gerade nicht, und dann lassen wir es bleiben», sagte Bierhoff.