Die Enttäuschung über ihren zweiten Kreuzbandriss, ihre zweite Reha und viele verpasste Fußball-Monate lässt sich Giulia Gwinn nicht anmerken. Die Nationalspielerin vom FC Bayern München hat den nächsten herben Rückschlag ihrer noch jungen Karriere längst akzeptiert.
«Die Verletzung wird mich wieder stärker machen. Das war schon beim ersten Kreuzbandriss so», sagt die Vize-Europameisterin voller Überzeugung. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht die 23-Jährige über Reha-Freundschaften, ausgefallene Geschenke – und über die Weltmeisterschaft im Sommer. Ist Gwinn dabei?
Im fliederfarbenen Strickpullover sitzt die Außenverteidigerin in der zweiten Etage des Bayern-Campus. Immer wieder schweift Gwinns Blick auf das Fußballfeld, das sie seit Oktober nicht mehr betreten hat. Zum zweiten Mal nach 2020 bremst die 33-malige Nationalspielerin, die bei der EM im Sommer in England zu den herausragenden Kräften gehörte, ein Kreuzbandriss aus. Rehazentrum statt Champions-League-Bühne.
Noch keinen festen Termin fürs Comeback
Wann Gwinn auf den Platz zurückkehrt, ist nicht abzusehen. Die WM-Teilnahme als das ultimative Ziel? «Ich bin davon weg, mir ein Turnier als festes Ziel zu setzen, weil es am Ende nicht in meiner Macht liegt. Ich habe noch nicht einmal angefangen zu laufen.» Ab dem 20. Juli jagt die DFB-Auswahl in Australien/Neuseeland ihren dritten WM-Titel.
Bevor die Nationalspielerin mit dem Ball über den Platz sprinten kann, stehen unzählige Behandlungen, Kraftübungen und Cardioeinheiten an. Gwinn blickt positiv auf die mental schwierige Zeit, trotzdem lassen sich negative Gedanken nicht vermeiden. «Klar gibt es auch mal Tage, an denen es weh tut, meine Teamkolleginnen im Mannschaftstraining zu sehen.»
Kreuzbandriss – das ist ein Thema, was die DFB-Auswahl immer wieder beschäftigt. Vor der EM fiel Spielmacherin Dzsenifer Marozsan von Olympique Lyon damit aus. Unmittelbar vor dem Turnierauftakt in England erwischte es Weltfußballerin Alexia Putellas vom FC Barcelona. Bei den Deutschen feierte im November Paulina Krumbiegel von der TSG 1899 Hoffenheim ein vielversprechendes Comeback – ein gutes Jahr nach ihrem Kreuzbandriss.
Laut Nationalmannschaftsarzt Tobias Schmenn beträgt die durchschnittliche Dauer bis zur Rückkehr ins Spielgeschehen nach einer Ruptur des vorderen Kreuzbandes etwa neun Monate – unter optimalen Bedingungen. Erstaunlich: Diese Horror-Diagnose fällt bei Frauen im Leistungssport öfter als bei Männern. «Je nach Studie wird das Risiko einer Kreuzbandverletzung für Frauen im Gegensatz zu Männern drei- bis sechsmal höher beschrieben, manche Autoren gehen von einem noch höheren Risiko aus», so Schmenn.
Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie erklärt die Gründe: «Hier spielen bei Frauen eine eher bestehende X-Beinachse, ein Überwiegen der vorderen Oberschenkelmuskulatur zur hinteren und ein eher aufrechtes Landen aus dem Sprung eine Rolle. Männer landen eher in die Kniebeuge hinein.» Dazu kämen wahrscheinlich gewisse zusätzliche anatomische Unterschiede, wie eine etwas engere knöcherne Situation im Bereich der oberen, vorderen Kreuzbandaufhängung und ein möglicherweise etwas erhöhtes Gefälle des Schienbeinkopfes. «Darüber hinaus werden auch hormonelle Faktoren diskutiert. So haben Untersuchungen gezeigt, dass Östrogen zu einer Lockerung des Gewebes und Abnahme der Zugfestigkeit des Kreuzbandes führt», sagte Schmenn.
Gute Stimmung im Kraftraum
Immerhin: Gwinn kann ihr Reha-Leid mit Abwehrkollegin Hanna Glas teilen, die nach ihrer Knie-Operation ebenfalls ausfällt. «Mittwochs stehen immer Kraftübungen an, die uns nicht super viel Freude bereiten. Dann machen wir gute Musik an, tanzen. Unser Reha-Trainer muss viel mitmachen mit uns», meint Gwinn und fängt an zu lachen. Besonders angesagt: «Sweet Caroline» und «Country Roads».
Gwinns tägliches Highlight hängt aber in der Küche. «Ich habe von meinen Teamkolleginnen ein Riesenplakat mit der Aufschrift ‚Wir stehen hinter‘ dir geschenkt bekommen. Mit 130 verdeckten Bildern», erzählt die Münchnerin. Auf den Bildern sind aktuelle oder ehemalige Mitspielerinnen. «Ich kratze jeden Tag eins frei und sehe, wer symbolisch hinter mir steht».
Auf den zweiten Blick hat die Verletzung sogar etwas Gutes. Mehr Zeit mit der Familie, Hund Lui oder ein Wellness-Wochenende mit Freunden lenken Gwinn ab. Doch so schön die gewonnene Freizeit auch ist, Gwinn will Fußball spielen. «Ich war mal ein kleines Mädchen, das diesen großen Traum vom Fußballprofi beim FC Bayern hatte. Ich habe von Titeln und Trophäen geträumt.» Diesen Traum will Gwinn schnellstmöglich weiterverfolgen.