Beim klassischen Aufwärmspiel im Kreis muss sich Florian Wirtz keine Sorgen machen. Er streichelt den Ball mit dem Fuß. Der Ball gehorcht immer. Nie kassiert er von den feixenden Kollegen als Strafe die unangenehmen Fingerschnipser ans Ohr.
Bei seinem ersten Training mit der Nationalmannschaft nach fast eineinhalb Jahren ist am Dienstag in Frankfurt ob dieser Fußball-Qualitäten sofort klar, warum Hansi Flick so glücklich über die Rückkehr des Teenagers ist.
«Wir sind natürlich alle froh, dass Florian wieder auf dem Platz steht. Und die Leistungen, die er in Leverkusen gebracht hat, waren richtig gut», sagte der Bundestrainer zum Start ins Länderspieljahr. Mehrfach habe er sich zuletzt Bayer-Partien angeschaut, erzählte Flick, erst am Sonntag beim Leverkusener 2:1 gegen den FC Bayern. Gerade auch, um Wirtz zu sehen. Dessen lange Auszeit nach dem Kreuzbandriss vor fast genau einem Jahr hat auch Flick geschmerzt. Bei der WM in Katar hätte Wirtz vielleicht einen Unterschied machen können.
Gefragter Spieler
Als der Leverkusener Mittelfeldspieler kurz nach dem Training auf dem Pressepodium sitzt, geht sein Blick hinüber zu den viel erfahreneren Kollegen Matthias Ginter und Emre Can, die beide zehn Jahre älter sind und schon viel häufiger für Deutschland gespielt haben. «Ich schon wieder?», fragt er leise. Ja, er soll als Erster antworten, auf die Frage nach einer neuen Achse im DFB-Team.
Diesen Stellenwert will Wirtz für sich noch nicht beanspruchen. «Teil einer Achse? Weiß ich nicht. Ich versuche, im Training weiter Gas zu geben, hier meine Qualitäten zu zeigen. Vielleicht kann man dann in den Spielen mehr sehen», sagte das Supertalent.
Flick hat Jamal Musiala und ihn zu den Gesichtern der Hoffnung auserkorenen für eine erfolgreiche Heim-EM im Sommer 2024. Was macht das mit dem noch recht jungenhaft wirkenden Ausnahmekönner mit den gar nicht so breiten Schultern? «Druck verspüre ich nicht», versicherte Wirtz. Er wolle sich «erstmal in die Mannschaft einfügen». Es klingt alles so unaufgeregt, wenn Wirtz spricht. Auch die Frage nach dem angeblichen Interesse des FC Barcelona scheint ihn nicht zu verwirren. Er habe davon nur aus den Medien erfahren.
Vor Startelf-Debüt
Flick sprach schon vom «Raunen» der Fans, das Wirtz und Musiala (20) mit ihrer technisch feinen Spielweise auslösen. Da der Bayern-Profi für die Spiele am Samstag (20.45 Uhr/ZDF) gegen Peru in Mainz und danach in Köln gegen Belgien mit einem Muskelfaserriss ausfällt, werden sie noch nicht gemeinsam die erhoffte Initialzündung für wieder bessere deutsche Länderspiel-Laune geben können. Wirtz findet das «schade».
Der Leverkusener war der erste Länderspiel-Debütant von Flick als Bundestrainer im September 2021 gegen Liechtenstein (2:0). In gewisser Weise ist Wirtz nun so etwas wie der siebte Neuling im aktuellen Flick-Aufgebot, in das der Bundestrainer gleich sechs Akteure ohne Länderspiel-Erfahrung berief. Insgesamt kommt Wirtz erst auf 77 Joker-Minuten in der A-Auswahl. Gegen Peru würde er überhaupt erstmals in der Startelf stehen.
Behutsam will auch Flick mit ihm umgehen. Die schwere Verletzung, die ihn für die Katar-WM zum TV-Zuschauer machte, verlangt immer noch Geduld. Das Knie sei schmerzfrei, berichtet Wirtz. Aber auch in Leverkusen stand er in den bislang neun Bundesliga-Spielen nie über die komplette Spielzeit auf dem Platz. «Wir tun auch gut daran, dass wir ein bisschen auf ihn aufpassen. Gerade nach so einer schweren Verletzung ist es immer gut, wenn man das eine oder andere Mal auch aussetzt», sagte Flick.
Platzschaffer für das Angriffsspiel
In den Trainingsspielformen auf dem DFB-Campus bekommt Wirtz aber das orange Leibchen für die erwarteten Startspieler für das Peru-Spiel. Auf halb rechts hat der jüngste im aktuellen DFB-Kader neben Kai Havertz hinter den Spitzen Niclas Füllkrug und Timo Werner seinen Aktionsradius. Eine schnelle Drehung, ein öffnender Pass. Wirtz ist der Raumöffner, der Platzschaffer für das Angriffsspiel.
So viel Qualität will Flick nicht mehr abgeben. Auch nicht für die EM-Endrunde der U21 in diesem Sommer, bei der Wirtz ein Jahr vor dem großen Turnier-Highlight 2024 wie auch Musiala noch mitspielen dürfte. «Es gibt Spieler, die ein bisschen aus dem Ganzen rausgewachsen sind. Florian gehört da auf jeden Fall dazu, weil er mit seinen Leistungen gezeigt hat, was für eine Qualität er hat. Von daher plane ich ihn im Sommer bei uns ein», machte Flick klar.