Hansi Flick ging mit einem Lächeln. Die Mimik des Bundestrainers stand im Kontrast zur unverändert unbefriedigenden Lage der Fußball-Nationalmannschaft nach dem ersten Test-Auftrag mit etwas Licht und reichlich Schatten Richtung Heim-EM.
Die Aussicht, beim Bundesliga-Kracher zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund als reiner Beobachter auf der Tribüne der Allianz Arena zu sitzen, ließ ihn die irritierenden Defizite einer konfusen Startphase beim 2:3-Rückschlag gegen Belgien kurz wieder vergessen. «Ich freue mich auf das Spiel am Samstag», sagte Flick und entschwand mit flottem Schritt in die Kölner Nacht.
Die Chancenverwertung bleibt ausbaufähig
In einer eilig einberufenen Teamsitzung hatte der 58-Jährige zuvor seine Hauptdarsteller um seinen «aggressiven Leader» Emre Can und den eigentlich für die Rolle als Anführer vorgesehenen Kapitän Joshua Kimmich noch in der Kölner Kabine ein paar Aufgaben für den Saison-Endspurt mitgegeben. Vier Monate nach dem Katar-Schock hat sich substanziell wenig verändert. Die Chancenverwertung bleibt ausbaufähig, die defensiven Schwächen bleiben fatal. «Wenn wir drei kriegen, wird es immer schwer sein, zu gewinnen», monierte Flicks Top-Torschütze Niclas Füllkrug.
Während Flick sich auf seine anstehende Zuschauerrolle freute, vermieden die Bayern- und BVB-Profis noch verbale Provokationen zum brisanten Topspiel um den Meistertitel in München. «Wir haben ganz wichtige Wochen vor uns», sagte Kimmich. «Es wird extrem schwer in München», sagte Can.
Einträchtig waren beide nebeneinander auf die Klatsch- und Danke-Runde für die erstaunlich leicht zu begeisternden Fans gegangen. Der Zuspruch war ein positives Signal auch für Flick. «Ein Riesenlob an das Publikum. Die Fans haben gespürt, dass da eine Mannschaft ist, die nochmal alles versucht. Sie haben uns sehr, sehr gut unterstützt», sagte er. Von einem WM-Blues war in Köln gar nichts zu spüren, obwohl die DFB-Elf reichlich Argumente für neue Zweifel an der für 2024 ersehnten Sommermärchen-Neuauflage lieferte.
«Zum Glück haben wir noch ein bisschen Zeit»
Nach der noch nächtlichen Rückkehr in die Heimat wird sich bei den Münchner und Dortmunder Nationalspielern der Druck für das Spitzenspiel aufbauen. Kimmich, Torschütze Serge Gnabry und der am Knöchel wohl nicht ernsthafter verletzte Leon Goretzka lernen ihren neuen Trainer Thomas Tuchel im Eilverfahren kennen. Die gerade noch glimpflich verlaufene Belgien-Lektion hallt aber erstmal – besonders auch für Flick – noch nach.
Die große Prüfung steht – und das ist gut für Flick – erst im Sommer 2024 mit der Heim-EM an. «Zum Glück haben wir noch ein bisschen Zeit. Heute hat man gemerkt, dass wir noch nicht auf internationalem Top-Niveau sind», gestand Kimmich, der als Sechser die Lücken beim belgischen Anfangswirbel auch nicht schließen konnte. Im Gegensatz zu Can, der nach seiner frühen Einwechslung mit Kampf und Leidenschaft voranging und plötzlich neben Dauertorschütze Füllkrug Flicks der große März-Gewinner ist. «Er hat sehr viele Zweikämpfe gewonnen und die Mannschaft wachgerüttelt», sagte Flick.
Wachgerüttelt sollte auch Flick nun sein. Der ziemlich gewagte große Personaltest hat ihm gezeigt, dass er keine Zeit zu verlieren hat. Das Ausprobieren, Sichten und Experimentieren mit mehreren Junioren mag ihm Optionen gezeigt haben. Doch die Stabilität der Belgier, die selbst ein WM-Trauma zu überwinden haben, demonstrierte, dass die viel beschworenen Automatismen nun flott im DFB-Team Einzug halten müssen. Sonst wird zu viel Zeit verschenkt. Jetzt braucht Flick auch für seine seit Katar geschwächte Position Ergebnisse.
Er wird in den kommenden Wochen genau hinschauen müssen, wer ihm helfen kann, wenn es im Juni mit dem 1000. Länderspiel in der DFB-Historie aller Wahrscheinlichkeit nach gegen die Ukraine in Bremen weitergeht. Seine Personalpolitik mit vielen jungen Akteuren – darunter fünf eingesetzten Neulingen – stimmte ihn ob «der Erkenntnisse, die wir gewonnen haben», zufrieden. Mit einer Rückkehr der etablierten Kräfte von Antonio Rüdiger bis Ilkay Gündogan oder Leroy Sané ist dennoch zu rechnen.
«60, 65 Minuten war es ein gutes Spiel»
Im Juni kommt es wohl auch zum Kräftemessen mit Robert Lewandowski in Polen – noch so ein Hochkaräter wie die belgische Fußball-Naturgewalt Romelu Lukaku, der Flick Defizite gnadenlos vor Augen führen kann. Ohne Realismus blieb der Bundestrainer nicht. «Ich glaube nicht, dass ich jetzt hier sage, wir sind superhappy und alles ist wunderbar. Das wäre der falsche Ansatz», sagte Flick.
Das Pendel der Bewertungen schlug aber auch wieder in eine merkwürdig klingende Richtung aus. «60, 65 Minuten war es ein gutes Spiel», konstatierte der 58-Jährige. Das klang ein bisschen wie jene WM-Analyse, laut der nur 10 bis 20 schlechte Minuten beim 1:2 gegen Japan den deutschen Vorrunden-K.o. in Katar verursacht hätten. Die Augen vor der deutschen Fußball-Realität kann Flick aber eben nicht mehr verschließen.
Das 2:0 gegen Peru war noch ein wichtiger Aufbauschritt gegen einen schwachen Kontrahenten. Die Messlatte Belgien wurde nun gerissen. «Wir haben einiges noch zu tun. Für uns war klar, dass nicht alles bei hundert Prozent ist», versicherte Flick. Leidenschaft und Wille verbuchte der Bundestrainer immerhin als Pluspunkte nach dem Schock-Start mit den frühen Gegentoren von Yannick Carrasco und Lukaku.
«Da waren wir überhaupt nicht da, sowohl körperlich als auch vom Kopf her. Alles, was wir uns vorgenommen haben, haben wir vermissen lassen», sagte Kimmich, der dem Team auch nicht helfen konnte. «Wichtig war, dass wir ab der 30. Minute eine Reaktion gezeigt haben, trotzdem war es zu wenig», fügte der Bayern-Profi im ARD-Interview an.