Erst beim lockeren Plausch am Lunch-Buffet fiel bei Hansi Flick die spürbare Anspannung ab. Nach «intensiven» und auch «emotionalen» 24 Stunden blickte der Bundestrainer auf den großen Bildschirm mit den Namen seiner 26 auserwählten Spieler für die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar und gönnte sich nach der offiziellen Kader-Präsentation lediglich eine Tasse Kaffee.
Rückkehr für Rio-Held Mario Götze, Debüt für den noch 17 Jahre alten Youssoufa Moukoko als jüngster deutscher WM-Teilnehmer und den spät berufenen Bremer Niclas Füllkrug (29). Aber keine Verwendung mehr für den turniererfahrenen Abwehr-Routinier Mats Hummels und zu große Bedenken bei Dauer-Pechvogel Marco Reus.
Diese teils schwierigen Entscheidungen hatte Flick nach einer im Ton harschen Menschenrechtskritik am WM-Gastgeber Katar zur Mittagszeit in der DFB-Akademie verkündet. Man werde sich vor den politischen Themen «nicht wegducken» und auf die «Missstände aufmerksam» machen, versprach Flick. Aber als Bundestrainer müsse er sich auf das Sportliche konzentrieren.
Die Zielvorgabe bleibt nämlich klar, auch wenn er die Titelambition nicht konkret aussprach. Bei der umstrittenen Endrunde im Emirat soll der fünfte WM-Titel für die Nationalmannschaft her. Und Flick sieht seine Auswahl für sein Turnierdebüt als Chefcoach richtig zusammengestellt. «Wir haben einen sehr guten Kader, den wir mitnehmen können», sagte der 57-Jährige. «Wir haben es uns nicht einfach gemacht. Wir haben viele Dinge durchgespielt, Wenn-dann-Strategien.»
Flick: Götze «ein genialer Fußballer»
Wer kann für die besonderen Momente sorgen, wie einst Götze im WM-Finale 2014? Diese Frage stand bei Flick oben auf der Agenda und spülte neben dem von seinen Werder-Teamkollegen mit «Füllkrug is on fire» gefeierten Bremer-Stürmer auch den mittlerweile 30-jährigen Götze nach famosen Monaten bei Eintracht Frankfurt wieder in den DFB-Kader.
«Bei uns steht im Fokus, wie jemand performt. Wir alle wissen, dass Mario ein genialer Fußballer ist, der Gedankenblitze hat. Wenn man die letzten Spiele sieht, war er auf ganz hohem Niveau», sagte Flick. Götze bestritt sein letztes von 63 Länderspielen vor fünf Jahren beim 2:2 gegen Frankreich in Köln. Dann folgten Jahre der Krise und der Umweg über die PSV Eindhoven. Flick hatte Götze aber immer im Blick. Schon als Bayern-Trainer habe er Kontakt gehalten, berichtete er.
Mit einem eindringlichen Appell an Teamgeist, maximale Leidenschaft und ganz viel offensives Denken präsentierte Flick seine Katar-Auswahl. Ohne diese Attribute wird es bei dem Advent-Turnier mit den Gruppengegnern Japan, Spanien und Costa Rica nicht gehen. Unterstützung per Video-Botschaft gab es vom Ex-Chef Joachim Löw, der extra eine Trainingsjacke im Retro-Look von Helmut Schön aus dem Jahr 1974 «aus dem Kleiderschrank hervorgekramt» hatte, damit diese «alles Glück bringt, das wir benötigen», sagte Löw. «Denk daran, was uns 2014 stark gemacht hat, wir haben jede Minute dran geglaubt und uns nie aus der Ruhe bringen lassen», gab der letzte deutsche Weltmeister-Trainer seinem Nachfolger und früheren Assistenten Flick mit auf den Weg.
Erstmals bei einer WM zwei Teenager im DFB-Aufgebot
Der Blick zurück ist aber nicht Flicks Fokus. Der Bundestrainer setzt auffällig auf Jugend-Power und die Zukunft. Meriten sind keine ausschlaggebende Größe mehr. In Moukoko, der am Tag des Eröffnungsspiels seinen 18. Geburtstag feiert, und dem schon zum Leistungsträger aufgestiegenen Jamal Musiala (18) sind erstmals bei einer WM zwei Teenager im DFB-Aufgebot. BVB-Jungstar Moukoko sagte, er sei «unfassbar glücklich und überwältigt». Moukoko sei «schnell, quirlig» und habe «einen guten Abschluss», lobte Flick den explosiven Angreifer.
Karl-Heinz Schnellinger war 1958 mit 19 Jahren der letzte deutsche WM-Teenager. In Armel Bella-Kotchap, der als Perspektivspieler den Vorzug vor dem laut Flick total enttäuschten Hummels erhielt, und Karim Adeyemi sind zwei Zwanzigjährige als weitere Hoffnungen für die Zukunft zum Lernen dabei – auch mit Blick auf die Heim-EM 2024. Für Leverkusens Florian Wirtz (18) wäre nach seinem Kreuzbandriss die hohe Belastung hingegen zu früh gekommen, argumentierte Flick.
Zum DFB-Kaltstart wird die WM neben Moukoko auch für Füllkrug. Nach dem Ausfall der verletzten Timo Werner und Lukas Nmecha steht das so unterschiedliche Duo ganz vorne noch mehr im Fokus. «Er ist einer, der ständig versucht, sich zu verbessern, einer, der der Mannschaft das Vertrauen schenkt, dass immer noch was geht», sagte Flick über Füllkrug. Der Bremer sicherte sich mit seinen zehn Bundesliga-Toren das WM-Debüt. Er habe das «Momentum», betonte Flick.
Fünf BVB-Profis, sieben Bayern-Spieler
Zum Tag der Enttäuschung wurde die Nominierung für Hummels. Flick war hörbar bemüht, das Renommee des 33-Jährigen unbeschadet zu lassen. Aber dennoch sagte er, dass der Verzicht auf den BVB-Abwehrspieler «nicht gegen Mats, aber für die Mannschaft» gewesen sei. Womöglich passt der meinungsstarke Routinier doch nicht mehr in das Teamgefüge. Dass ihm diese Absagen nicht leicht fielen, vermittelte Flick glaubhaft. Wie auch das Bedauern um den Ausfall von Werner und die Absage an den einfach zu anfälligen Reus. «Das tut uns weh», sagte Flick.
Dennoch sind fünf Dortmunder in Katar für die DFB-Auswahl dabei. Die zweitgrößte Club-Fraktion nach den sieben Bayern-Spielern um Kapitän und Torwart Manuel Neuer (36) und Thomas Müller (33) als Team-Senioren, die ihr jeweils viertes WM-Turnier bestreiten. Der DFB-Tross kommt unmittelbar nach den letzten Ligaspielen am Sonntag in Frankfurt zusammen. Einen Tag später geht es in den Oman, wo am Mittwoch noch ein Testspiel gegen den dortigen Gastgeber stattfindet. Einen Tag später geht es weiter nach Katar ins WM-Quartier ganz im Norden des Landes.
Das WM-Aufgebot der Fußball-Nationalmannschaft:
Torhüter: Manuel Neuer (Bayern München), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona), Kevin Trapp (Eintracht Frankfurt)
Abwehr: Armel Bella Kotchap (FC Southampton), Matthias Ginter (SC Freiburg), Christian Günter (SC Freiburg), Thilo Kehrer (West Ham United), Lukas Klostermann (RB Leipzig), David Raum (RB Leipzig), Antonio Rüdiger (Real Madrid), Nico Schlotterbeck (Borussia Dortmund), Niklas Süle (Borussia Dortmund)
Mittelfeld/Angriff: Karim-David Adeyemi (Borussia Dortmund), Julian Brandt (Borussia Dortmund), Niclas Füllkrug (Werder Bremen), Serge Gnabry (FC Bayern München), Leon Goretzka (FC Bayern München), Mario Götze (Eintracht Frankfurt), Ilkay Gündogan (Manchester City), Kai Havertz (FC Chelsea), Jonas Hofmann (Bor. Mönchengladbach), Joshua Kimmich (FC Bayern München), Youssoufa Moukoko (Borussia Dortmund), Thomas Müller (FC Bayern München), Jamal Musiala (FC Bayern München), Leroy Sané (FC Bayern München)