Für die Fans des FC St. Pauli sind ihre Lieblinge längst nicht mehr von dieser Welt. War es bislang vor allem Kapitän Jackson Irvine, der zum Fußball-Gott des Hamburger Zweitligisten ausgerufen wurde, bedachten die Anhänger am Samstagabend im Millerntorstadion beim 5:1 gegen den 1. FC Nürnberg jeden Spieler nach Nennung des Nachnamens mit der Ehrenbezeichnung.
«Da habe ich mich auch echt gewundert. Meistens ist das nur Jackson. Aber es hat mich auch gefreut, mal so genannt zu werden», sagte Doppel-Torschütze Johannes Eggestein lächelnd. «Ich weiß nicht, ob die das jetzt immer machen. Heute ist es aber vielleicht auch verdient, dass jeder so genannt wurde.»
Kunstfußball aus dem Arbeiterviertel
Er und seine Teamkollegen begeistern derzeit nicht nur die eigenen Fans. Die in der zweiten Halbzeit phasenweise fast schon rauschhafte Vorstellung des Tabellenführers gegen die Nürnberger war nicht die erste in dieser Saison. Die Mannschaft des Vereins aus dem Arbeiterviertel zelebriert unter ihrem jungen Trainer Fabian Hürzeler bisweilen Fußball-Kunst, zeigt eine unbändige Spielfreude und hält eine erstaunliche Balance zwischen Angriffsspektakel und solider Abwehrarbeit – und das konstant Woche für Woche.
Der Einzige, der einen kritischen Blick behält, ist Hürzeler selbst. «Ich bin niemand, der auf die Bremse tritt. Aber ich bin jemand, der das alles sehr, sehr gut einschätzen kann», sagte er zu der Fan-Begeisterung nach dem Nürnberg-Spiel. «Mir sind Werte wie Demut und Bescheidenheit sehr, sehr wichtig. Weil ich dafür stehe. Und das werde ich auch in die Mannschaft hineintragen.» Natürlich dürfe auch eine gewisse Euphorie und ein Flow entstehen. «Aber es muss immer gearbeitet werden.»
«Es passt aktuell vieles zusammen»
Die Tabellenführung vor der Länderspielpause mag zwar nur eine Momentaufnahme sein – in erster Linie ist sie vor allem das Ergebnis einer eindrucksvollen Entwicklung unter Hürzeler. «Es passt aktuell vieles zusammen. Ich bin unfassbar stolz auf diese Mannschaft, auf jeden Einzelnen», sagte der australische Anführer Irvine.
Im innerstädtischen Duell mit der Konkurrenz aus dem sieben Kilometer vom Millerntor entfernten Volkspark liegt der FC St. Pauli derzeit knapp vorn. Auch der HSV hatte zu Saisonbeginn mit Glanzleistungen erstaunt, brachte sich durch die Aussetzer gegen die Aufsteiger in Elversberg sowie Osnabrück (je 1:2) und dem unbefriedigenden 1:1 beim SV Wehen Wiesbaden selbst aus dem Tritt. Ein kleiner Trost: der HSV liegt gerade einmal zwei Punkte hinter dem Kiezclub.
Verantwortlich für die Entwicklung beim FC St. Pauli sind Sportchef Andreas Bornemann und Hürzeler. Im vergangenen Dezember stellte der 52-jährige Bornemann Vereinsikone Timo Schultz als Cheftrainer frei. Eine Entscheidung, die bei großen Teilen der Fangemeinde auf wenig Gegenliebe stieß. Der Manager beförderte zugleich den damals erst 29-jährigen Hürzeler vom Co- zum Cheftrainer.
Wagnis mit Hürzeler zahlt sich aus
Das Wagnis zahlte sich aus. Hürzelers bisherige Zweitliga-Bilanz: Von 26 Spielen in diesem Jahr verlor er zwei – zuletzt im April mit 3:4 gegen den HSV. Aus dem Abstiegs- machte er einen Aufstiegskandidaten. Bornemann gelang es indes, Spieler zu verpflichten, die genau zum FC St. Pauli passen.
Hürzelers besonderes Verdienst ist es, die Spieler auf ein neues Level gehoben zu haben. «Man kann gar nicht sagen, dass wir eine erste und zweite Reihe haben. Wir sind mittlerweile auf einem Niveau. Da kann jeder spielen», meinte Stürmer Eggestein. «Zugleich kriegen wir es hin, einen positiven Konkurrenzkampf zu haben.»
Das Nürnberg-Spiel war dafür nur ein Beispiel: Hürzeler brachte in der Schlussphase Etienne Ameneyido und Connor Metcalfe. Erst traf Ameneyido, dann legte er zum Treffer von Metcalfe auf. Eggestein: «Da sieht man, dass wir im Moment als Mannschaft richtig gut funktionieren.»