Als der untröstliche Harry Kane seine Mitstreiter am dringendsten brauchte, waren sie da. Torhüter Jordan Pickford eilte heran und hielt einen Kameramann entschlossen vom Filmen der tragischen Figur ab.
Cheftrainer Gareth Southgate nahm seinen Kapitän in der riesigen Wüstenzelt-Arena von Al-Chaur herzlich in den Arm und gab ihm wärmende Worte mit auf den Weg. Wohl kaum einer konnte sich nach dem spektakulären 1:2 gegen Weltmeister Frankreich so gut in die grenzenlose Enttäuschung Kanes hineinversetzen wie Southgate, dessen verschossener EM-Elfmeter von 1996 bis heute nachhallt.
Kane: «Dieses Spiel wird uns lange wehtun»
Englands Warten auf einen großen Titel geht 56 Jahre nach dem WM-Triumph von Wembley weiter, das Elfmeter-Elend auch: Kanes Fehlschuss in die Zuschauerränge des Al-Bait Stadions wird als Bild und Erinnerung dieser WM bleiben – und nicht der denkwürdige Viertelfinal-Kampf gegen den Giganten Frankreich oder die souveräne Turnier-Performance bis dahin.
«Dieses Spiel wird uns lange wehtun. Die WM ist nur alle vier Jahre. Wir haben keine Chance, es nächstes Jahr wiedergutzumachen. Uns steht eine lange Zeit des Wartens bevor», sagte der 29-Jährige, der sich in der Interview-Zone stellte und ruhig sprach. Erst vor einem Jahr hatten die Three Lions das EM-Finale auf dramatische Art und Weise vom Punkt gegen Italien verloren. Auch 2004 (gegen Portugal), 2006 (gegen Portugal) und 2012 (gegen Italien) ging es im Elfmeterschießen raus. Diesmal wird man sich an den Fauxpas von Kane erinnern.
Seine Mannschaft samt Trainer Southgate versammelte sich geschlossen um den Captain. Niemand machte Kane, der zuvor mit einem ersten Elfmeter den nationalen Rekord von Wayne Rooney eingestellt hatte, einen Vorwurf. «Wie viele Elfmeter hat er für uns getroffen? Er ist ein Weltklasse-Stoßstürmer. Ohne ihn kann ich mir unser Spiel nicht vorstellen», sagte Routinier Jordan Henderson. Southgate stellte direkt klar: «Wir gewinnen als Mannschaft und wir verlieren als Mannschaft. Er ist der beste Schütze.» Wenn er morgen erneut entscheiden müsste, würde er sofort wieder Kane schießen lassen.
Coach Southgate lässt Zukunft offen
Southgates einzige Entscheidung, die zeitnah ansteht, ist aber keine unmittelbar sportliche, sondern eher eine perspektivische: Vertrag bis 2024 erfüllen und mit der verheißungsvollen Mannschaft um Kane und Jude Bellingham in Deutschland einen neuen Anlauf wagen? Oder vorzeitig gehen? Als er weit nach Mitternacht vor der Weltpresse sprach, wirkte er nach aufreibenden WM-Wochen nicht nur gezeichnet, sondern auch unentschlossen. «Ich brauche Zeit, um korrekte Entscheidungen zu treffen. Es ist sehr emotional. Du hast so viele unterschiedliche Gefühle bei so einer WM. Es kostet so viel Energie, enorm viel Energie.»
Wurde vor dem Turnier noch über mögliche Nachfolger wie Thomas Tuchel oder José Mourinho spekuliert, ist Southgates Position mit dieser WM klar gestärkt worden – auch ohne goldenen Pokal. «Ich will die richtige Entscheidung treffen, wie auch immer diese aussieht. Die richtige Entscheidung für das Team und für den Verband», sagte Gentleman Southgate, der anders als Experten in der Heimat kein Wort über Schiedsrichter Wilton Sampaio aus Brasilien verlieren wollte. Wie ein Mann, der seine Ablösung fürchtet, klang der Ex-Profi nicht.
Für die EM 2024 in Deutschland hätte Southgate beste Voraussetzungen. Das Team ist über mehrere große Turniere gereift, die junge Generation um BVB-Star Bellingham, Phil Foden und Bukayo Saka wird von Jahr zu Jahr stärker. Das war auch bei den bisher letzten Weltmeistern Deutschland (2014) und Frankreich (2018) der Werdegang, bevor der ganz große Triumph gelang.
Kein personeller Umbruch
«Dieses tolle junge englische Team hat alles gegeben und wird nur noch besser. Ihre Zeit wird kommen», prophezeite Gary Lineker. Auch andere ehemalige Profis wie Alan Shearer und Gary Neville waren sich selbst im Moment der größten Enttäuschung einig: Bitte ein «Weiter so» – und bitte mit Southgate, der die Three Lions nach der EM 2016 am Tiefpunkt nach einer Pleite gegen Island übernommen hatte. Ein personeller Umbruch steht zunächst nicht an. Nur Kyle Walker (32) und Jordan Henderson (32) waren aus der Frankreich-Startelf über 30, ansonsten prägen die Kane-Generation und die Bellingham-Generation die nahe Zukunft.
Doch das war in der Wüste nach dem Aus durch Gegentore von Aurélien Tchouaméni und Olivier Giroud weit weg. «Absolut niedergeschlagen. Es lag an einem kleinen Detail, für das ich Verantwortung übernehme. Es gibt kein Verstecken und es wird Zeit brauchen, das zu verarbeiten. Aber das gehört zum Sport», schrieb Kane am Sonntagmorgen bei Twitter. Southgate hingegen verlor kein kritisches Wort über seine Führungsfigur. «Für mich ist er ein fantastischer Anführer, er hat sein bestes Spiel gemacht bei dieser WM», sagte der Coach. Nur Englands Happy End blieb aus – wie immer seit 56 Jahren.