Hansi Flick ist abgetaucht. Ebenso Oliver Bierhoff, über dem sich ein Sturm zusammenbraut. Auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf, der den bei seinem Turnierdebüt fehlerhaften Bundestrainer und den mittlerweile von allen Seiten attackierten Nationalmannschafts-Manager für Mitte der Woche zum WM-Rapport einbestellt hat, mag «keine Wasserstandsmeldungen abgeben».
Der Verbandsboss, der sich den erfahrenen DFB-Vizepräsidenten und Borussia-Dortmund-Chef Hans-Joachim Watzke als wichtigsten Mitentscheider an die Seite geholt hat, will erst wieder «mit einem Ergebnis» auf der öffentlichen Bühne erscheinen.
Die Debatte über die nächste Turnier-Enttäuschung des Fußball-Nationalteams sowie die Zukunft von Flick und Bierhoff verstummte dennoch am Wochenende nicht. Es geht längst ums große Ganze, um Schuldfragen, um Umwälzungen, um entschlossenes Handeln.
Lahm: Katastrophales Erscheinungsbild
Philipp Lahm bewertet das deutsche WM-Erscheinungsbild als Katastrophe. Der 39-Jährige registriert die WM-Gleichgültigkeit der Deutschen und die Abwendung von ihrem Lieblingsteam. Lahm fürchtet als Turnierdirektor um das von ihm geplante Fußball-Fest bei der Heim-Europameisterschaft 2024. «Am Ende braucht es eine Mannschaft, mit der man sich identifizieren kann», schrieb der Weltmeister von 2014 in einer Kolumne für das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mit Flick als Trainer? Und mit Bierhoff als Manager?
Am Sonntag stand Jürgen Klinsmann in Katar vor einer FIFA-Werbewand. Der ehemalige Bundestrainer lächelte in seiner typischen Sonnyboy-Art in die TV-Kamera von «Sport1», als er in einer Live-Schalte die DFB-Krisenlage analysieren sollte. Der 58-Jährige sieht keine Parallele zur Stunde Null bei seinem Amtsantritt nach dem EM-Desaster 2004, nur zwei Jahre vor der Heim-Weltmeisterschaft. «Jetzt alles über den Haufen zu werfen, ich weiß nicht, ob dies das Richtige ist. 2004 war das eine ganz andere Situation. Damals war es wirklich nötig, einen kompletten Umbruch zu machen», sagte Klinsmann.
Ein Weiter-so ist für den damaligen DFB-Revolutionär aber ebenfalls keine Lösung. Vielmehr mahnte der ehemalige Nationalelf-Kapitän Weichenstellungen an. «Wir haben nur 18 Monate bis zur EM im eigenen Land. Es muss alles sehr gut überlegt sein, wie sehr Veränderungen jetzt angesagt sind.»
DFB-Chef Neuendorf hatte Flicks und Bierhoffs Zukunft trotz gültiger Verträge ausdrücklich bei seinem Schluss-Statement vor dem Rückflug des DFB-Trosses explizit offen gelassen. Er verlangt von ihnen eine klare WM-Analyse, aber ebenfalls die Entwicklung von «Perspektiven für die Zeit nach dem Turnier mit dem Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land».
Klinsmann stärkt Flick den Rüchen
Klinsmann äußerte sich nur zum 57-jährigen Flick, der in Katar keine klare Linie hatte und die von ihm selbst ausgerufenen Ziele meilenweit verfehlte. «Ich denke, dass Hansi Flick ein sehr guter, feiner Trainer ist und auch ein feiner Mensch. Das hat er bewiesen beim FC Bayern», sagte Klinsmann, der die WM-Spiele in Katar als Mitglied der Technischen Studiengruppe des Weltverbandes FIFA verfolgt. Er sah auch alle drei DFB-Partien live. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus plädierte auch für eine zweite Chance für Flick. «Hansi zieht die richtigen Schlüsse und ist für mich der richtige Mann für 2024», sagte der 61-Jährige bei «Bild TV».
Lahm ist derweil als Turnierdirektor für 2024 frustriert. «Die Mannschaft wirkt führungslos. Nun gilt es, die Richtigen zu finden, auch mit Blick auf die Heim-EM, die schon in 18 Monaten beginnt und für die das Abschneiden natürlich eine Katastrophe ist, da brauchen wir nicht drum herumzureden», sagte der Kapitän der letzten deutschen Weltmeisterelf 2014.
Frustrierte DFB-Spieler
Diverse Spieler aus dem Katar-Kader wie Kapitän Manuel Neuer meldeten sich am Wochenende nochmals mit Social-Media-Botschaften. «Es ist brutal frustrierend, dass wir unsere Leistung nicht konstant abrufen konnten», schrieb Neuer bei Instagram. Das werde ihm noch lange nachhängen. Es werde «Wochen dauern, dies zu verarbeiten», äußerte Kai Havertz. Seine zwei Tore beim 4:2 gegen Costa Rica wendeten zwar die drohende Niederlage ab. Aber nicht mehr das bittere Aus als punktgleicher Dritter hinter Spanien, das nun am Dienstag statt der deutschen Elf gegen Marokko um den Viertelfinaleinzug spielt.
Abwehrchef Antonio Rüdiger glaubt, dass es «einige Zeit dauern wird, bis ich das verdaut habe». Jamal Musiala, Deutschlands Lichtblick neben Tor-Joker Niclas Füllkrug, ist auch noch mit der Frustbewältigung beschäftigt. «Diese WM sollte mehr für uns werden, wir haben uns viel mehr vorgenommen. Definitiv!», übermittelte er via Instagram. Aber der 19-Jährige kündigte auch kämpferisch an: «In 2023 werde ich mit voller Motivation angreifen.»
Bei der Analyse ihres Scheiterns waren die Spieler schon im Beduinenzelt-Stadion von Al-Chaur unmittelbar nach dem am Ende unnützen Costa-Rica-Sieg sehr klar gewesen. «Wir stehen wieder bei Null – das ist die Realität», sagte Abwehrrecke Rüdiger. Joshua Kimmich sprach derweil persönlich von der Angst vor «einem Loch», in das er zu fallen drohe.
Aus dem Loch muss nicht nur der bei Turnieren erfolglose Führungsspieler des FC Bayern wieder heraus. «Es ist eigentlich eine Katastrophe, dass sich Deutschland nach der Gruppenphase verabschiedet», sagte Klinsmann mit Blick auf die Talente im Kader. Der einstige Topstürmer vermisste «Freude und Spaß» beim deutschen Team. Er fühlte als Beobachter zu viel äußere Ablenkung, Stichwort «One Love»-Binde. «Wenn man an sein Maximum der Leistung kommen möchte, musst du im Kopf klar sein.»
Klinsmann votiert für «einen kleinen Umbruch» beim Spielerpersonal. «Du kannst jetzt wirklich nicht alles über den Haufen werden. Vor allem nicht mit einer Generation an Spielern, die erst noch zum Blühen kommt. Wir haben viele Spieler, die sind Mitte 20, die haben das ganz Große noch vor sich.» Schon in 18 Monaten bei der Heim-EM?