Da war es wieder, das Drama in Person. Diesmal humpelte Neymar mit goldenen Kopfhörern auf den Ohren durch die Katakomben des Lusail Stadions in Katar, die Unterschenkel steckten in schwarzen Kompressionsstrümpfen.
Den Blick hielt er gesenkt, ernste Miene, zur Schwere seiner Sprunggelenksverletzung wollte er nichts sagen. Auch deshalb fragen sich nun nicht nur die Brasilianer: War’s das schon mit der WM? Geht der persönliche Turnierfluch des 30 Jahre alten Fußball-Superstars weiter?
Genauere Untersuchungen folgen
«Wir müssen jetzt 24 bis 48 Stunden warten, bis wir näheres sagen können», sagte Brasiliens Teamarzt Rodrigo Lasmar in der Nacht zu Freitag. Der Chef-Doktor der Seleção war extra zur Pressekonferenz nach dem 2:0 gegen Serbien bestellt worden, um sich zum Knöchel der Nation zu äußern. Seine erste Diagnose: Fußgelenk geschwollen, genauere Untersuchungen folgen. Erst dann wird klar sein, wie schlimm es wirklich um den Angreifer von Paris Saint-Germain steht.
Sollte das Turnier für Neymar tatsächlich vorzeitig vorbei sein, wäre sein persönliches WM-Drama perfekt. Beim Heim-Turnier 2014 hatte ihm der Kolumbianer Juan Camilo Zúñiga sein Knie derart heftig in den Rücken gerammt, dass er sich einen Wirbelbruch zuzog. Neymar verpasste das 1:7 gegen Deutschland im Halbfinale. 2018 reiste er nach einem Mittelfußbruch alles andere als in Topform zum Turnier in Russland, wo er primär durch seine Fallsucht auffiel. Brasilien schied im Viertelfinale aus. Beim Gewinn der Copa América 2019 fehlte er verletzt. Und jetzt?
«Wir sind zuversichtlich, dass er bei dieser WM weiterspielen kann. Er wird diese WM fortsetzen», kündigte Nationaltrainer Tite trotzig an. Ob das tatsächlich so ist, werden aber erst die Untersuchungen zeigen. Falls nötig, werde man auch Röntgenbilder machen, sagte Teamarzt Lasmar. Erst mal soll der Fuß Neymars aber per MRT genauer angeschaut werden. Ob er dann schon für das nächste Vorrundenspiel am Montag gegen die Schweiz wieder einsatzfähig wäre, erscheint zumindest fraglich.
Seleção bangt um Superstar
An personellen Alternativen würde es Tite nicht mangeln. Als Neymar verletzungsbedingt raus musste, brachte der 61-Jährige den ebenfalls hoch veranlagten Dribbelkünstler Antony von Manchester United. Außerdem wären da noch Rodrygo von Real Madrid, Gabriel Martinelli oder Gabriel Jesus vom FC Arsenal und der ebenfalls für Man United spielende Fred. Und dass Brasilien auch ohne Neymar große Titel gewinnen kann, ist spätestens seit der Copa vor drei Jahren klar. Trotzdem bangt die Seleção.
«Wir hoffen, dass es nichts Großes ist», sagte Kapitän Thiago Silva. «Es ist normal, dass er ein bisschen traurig ist angesichts der Situation. Aber das sind Dinge, die passieren. Wir sind bei ihm. Und wenn er gegen die Schweiz noch nicht wieder fit ist, dann eben beim letzten Spiel gegen Kamerun.» Bis dahin wollen die Brasilianer im Idealfall schon die Qualifikation für das Achtelfinale sicher haben.
Dass sie auf dem besten Weg dorthin sind, liegt vor allem an Richarlison. Mit einem Doppelpack hatte der Angreifer der Tottenham Hotspur die Serben praktisch im Alleingang besiegt. Sein erster Treffer (62. Minute) war ein trockener Abstauber, der zweite dafür umso spektakulärer. Auf Vorarbeit von Vincius Júnior legte er sich den Ball selbst hoch und hämmerte ihn anschließend per Seitfallzieher ins Netz. «Ich denke, das war eines der schönsten Tore, die ich je geschossen habe», sagte er. Es wird auch sicher eines der schönsten dieses Turniers bleiben. Trotzdem drehte sich am Ende fast alles um Neymar.