Eine Entschuldigung bei den Fans und ein Rüffel für die Kritiker seiner Havertz-Taktik: Julian Nagelsmann geht nach dem rabiaten Türkei-Dämpfer kämpferisch in die letzte EM-Prüfung des Jahres.
«Wir müssen uns den Flow erarbeiten und dürfen nicht in die Opferrolle kommen, dann wird sich das Blatt wieder wenden», sagte der Bundestrainer vor dem immer reizvollen Test-Länderspiel gegen Österreich in Wien. Umgehend und intensiv habe er den Fußball-Nationalspielern nach dem 2:3 gegen die Türkei in Berlin die Defizite per Videoanalyse vorgeführt. Dass deshalb Mats Hummels und Co. zu spät zu einem Fan-Termin kamen, täte ihm leid.
«Es ist keiner gesetzt»
Kein Pardon gab es vom Bundestrainer für die mediale Schelte wegen der Versetzung von Kai Havertz auf die Position des linken Außenverteidigers. Der Arsenal-Profi habe ein hervorragendes Spiel gemacht, sei objektiv nicht schuld an der Niederlage, meinte Nagelsmann und lieferte als Beleg mehrere statistische Werte. Überhaupt: Negativität, Pessimismus und «alles in Schutt und Asche zu legen», sei keine Art.
Eines war klar: Für die vorweihnachtliche Stimmung am Prater und am Stephansdom hat Nagelsmann in Wien keine Zeit. Auf eine Fahrt im Riesenrad, auf Zuckerwatte oder einen wärmenden Glühwein an einer der schon aufgebauten Holz-Buden wird der Bundestrainer aus guten Gründen verzichten. Nach dem ernüchternden Wirrwarr-Rückfall gegen die Türkei ist das Österreich-Spiel die letzte Chance, doch noch mit einem halbwegs guten Gefühl ins Jahr der Heim-EM zu gehen. Danach folgen vier lange Monate Länderspielpause.
Die kann sich sehr zäh ziehen, wenn der Fußball-Nationalmannschaft der Makel einer weiteren Pleite beim kleinen Erzrivalen anhaftet. Der letzte Eindruck bleibt halt immer hängen. «Mich wurmt mehr die Pause an sich als die öffentliche Wahrnehmung», sagte Nagelsmann. Sein Team nimmt er dennoch in die Pflicht. «Es ist keiner gesetzt und jeder ist eingeladen, sein Bestes zu geben», wiederholte Nagelsmann einen Leitsatz. Die klare Botschaft: Nachlassen darf jetzt keiner.
Auch für Nagelsmann steht einiges auf dem Spiel. Mit seiner ersten Analyse der Niederlage im Gepäck machte er sich an die finale Vorbereitung für das Duell und Wiedersehen mit Ralf Rangnick. Den persönlichen Taktik-Wettkampf mit dem deutschen Trainer-Guru in Diensten Austrias, der ihn an vielen Karrierestationen begleitete, würde der 36-Jährige ganz sicher auch aus egoistischen Motiven gerne gewinnen. Schon jetzt hat er nach drei Spielen die schlechteste Bundestrainer-Startbilanz seit Erich Ribbeck 1998.
Havertz-Rolle auf dem Prüfstand
Vor allem wartet aber Fußball-Deutschland nun auf Antworten des Bundestrainers. Die Dauer-Symptomatik der missratenen Flick-Zeit war gegen die Türkei wieder zutage getreten. Vorne mit den Chancen schlampig und hinten tendenziell konfus. So wird die Heim-EM ganz bestimmt kein neues Sommermärchen.
Welche Lösungen bietet Nagelsmann also an gegen die derzeit ziemlich selbstbewussten Österreicher? Verraten wurde auch kurz vor dem Abschlusstraining wenig bis nichts. Ob Kevin Trapp wieder im Tor den Rücken-Kranken Marc-André ter Stegen vertritt oder einer der Neulinge Oliver Baumann und Janis Blaswich ran darf, ist noch die unwichtigste Komponente. Das Havertz-Experiment sei sogar eine EM-Option, hatte der Bundestrainer schon eine Kontinuität für diese Position angedeutet. In Wien angekommen hielt er sich alle Optionen offen.
Doch funktioniert in diesem mutigen System auch Mats Hummels in der verbliebenen Dreierkette? Oder fällt der wieder zur Führungsfigur erkorene Routinier dann wegen seines Tempo-Defizits durch das Taktikraster? Bei der Pressekonferenz machten beide nebeneinander einen eingespielten, harmonischen Eindruck.
Offen ist auch noch, wen Nagelsmann genau meinte, als er von mangelnder Emotionalität bei einigen Spielern sprach. Julian Brandt hatte gegen die Türkei dafür reichlich Argumente geliefert, angesprochen zu sein. Dessen Position könnte aber doch Havertz in Abwesenheit des verletzten Jamal Musiala so trefflich übernehmen.
Nebenmann für Gündogan
Gretchenfrage bleibt aber ohnehin: Was tun mit Joshua Kimmich? Alle Komponenten sprechen für eine Rückversetzung auf die Position als rechter Außenverteidiger. Dort wäre eine Stabilitätslücke geschlossen, und im Sechser-Zentrum wäre neben Kapitän Ilkay Gündogan Platz für einen dringend notwendigen echten Balleroberer wie Pascal Groß. Das hatte in Amerika gegen die USA (3:1) und Mexiko (2:2), als Kimmich mit Fieber fehlte, vorzüglich funktioniert.
Nagelsmann hatte sinngemäß angekündigt, möglichst für alle Top-Spieler einen Platz im Team finden zu wollen – und sei es eben für Havertz hinten links. Es allen mit Einsatzzeit recht machen zu wollen, war ein Kardinalfehler von Vorgänger Hansi Flick auch beim WM-Desaster in Katar. Auch das erklärte womöglich die erschrockenen Reaktionen von Fans und Experten auf die Personal-Volte des neuen Bundestrainers.
Leicht wird die Aufgabe in Wien nicht. Österreich ist mit Rangnick in einem kleinen Fußball-Rausch. «Die Österreicher haben eine richtig gute Mannschaft. Wenn man die ersten Elf oder auch 13, 14 durchgeht, da sind schon richtig gute Spieler dabei, die bei absoluten Top-Clubs Stammspieler sind in Europa», sagte Rudi Völler dem Bayerischen Rundfunk.
«Die zusammenzufügen, ist Ralf Rangnicks Arbeit, das hat er bisher gut gemacht», lobte der DFB-Sportdirektor das Teambuilding im Nachbarland, das für Nagelsmann eben jetzt noch ansteht. «Ich glaube, dass die uns nicht nur das Leben schwer machen werden in Wien, sondern auch eine gute EM spielen werden», prognostizierte Völler. Nagelsmann meinte, nicht Deutschland sei schlechter geworden, sondern Österreich besser.
Österreich sehr selbstbewusst
An Selbstvertrauen für das Deutschland-Duell und die EM mangelt es dem Gegner nicht. «Wir sind nicht chancenlos, haben eine gute Quali gespielt, sind gut drauf und echt eine geile Mannschaft. Wir werden es Deutschland so schwer wie möglich machen und schauen, dass wir auch das Spiel gewinnen», sagte Christoph Baumgartner von RB Leipzig, einer von vielen Bundesliga-Profis im Austria-Kader. Und ein wenig Schmäh geht ohnehin immer. «Wir fahren nicht hierher, um nur dabei zu sein, wir wollen schon zeigen, was wir Skifahrer auch draufhaben.»